Weite Teile der nationalen Berühmtheiten sind von einer Verhaltensstörung betroffen: Sie vermeiden politische Aussagen, um niemanden zu verprellen. Knackeboul will aber wissen, was Musiker, Sportler und Moderatoren zu aktuellen Fragen zu sagen haben.
Der Rapper Bligg hat Ende Januar in einem Interview in der Sendung «Glanz & Gloria» auf die Frage, was er von der Durchsetzungsinitiative hält, geantwortet: «Ich habe mich zu wenig mit der Materie befasst und somit keine Meinung dazu.»
Viele Leute inner- und ausserhalb der Rap-Szene waren empört, andere fanden die Empörung über diese Antwort schockierend. Ein Künstler könne sich schliesslich selbst entscheiden, ob er sich politisch äussern wolle oder nicht. Viele fanden sogar, es sei lästig, wenn Künstler und andere öffentliche Personen sich zu politischen Themen äussern.
Nun, so wie es Bliggs gutes Recht ist, seine Meinung nicht zu äussern, ist es mein gutes Recht, dieses Verhalten feige zu finden. Bligg ist ein Musiker und ein Texter. Songs leben davon, dass der Künstler Phänomene beobachtet und diese in Text und Ton wiedergibt, deutet, vereinfacht, verschleiert, romantisiert, herunterbricht, spiegelt und inszeniert. Viele Künstler sind wie Schwämme, die Tag für Tag Impressionen aufsaugen und sich dann nachts in schummrigen Räumen in Songs, Bildern, Texten und Performances ausdrücken.
Wenn sich ein Promi nicht politisch äussert, ist das Problem nicht die fehlende Meinung oder die Weigerung, sie zu äussern, sondern die Lüge, keine Meinung zu haben.
Bligg konnte das aktuelle Klima, die Diskussionen, die Plakate, den Streit, die Weltgeschehnisse gar nicht ignorieren. Natürlich hat er sich mit dem Thema befasst. Natürlich hat er sich eine Meinung gebildet. Das Problem ist also nicht die fehlende Meinung oder die Weigerung, sie zu äussern, sondern die Lüge, keine Meinung zu haben. (Fairnesshalber: Nachdem ihn ein Moderator des Jugendsenders Joiz auf Facebook angegriffen hatte, reagierte Bligg beleidigt, stellte aber klar: «Du weisst genau, dass ich Nein stimmen werde.»)
Hier muss ich kurz einen Einschub zum Thema «Lüge» machen – dieses Wort wird oft sehr schwer verdaut. Die Anschuldigung der Lüge scheint beinahe unverzeihlich. Dabei ist lügen in seinen verschiedensten Formen doch eine der Lieblingsbeschäftigungen der Menschen. Damit will ich das Lügen nicht verharmlosen, aber auch niemanden verteufeln, der mal nicht die Wahrheit spricht. Haben wir alle schon getan.
Aber eben: Wieso wollte Bligg zunächst nicht verraten, wo er steht? Meine Vermutung: Marketing! Ein erschreckend grosser Teil der Schweizer hat die Durchsetzungsinitiative und andere fragwürdige Vorstösse der sogenannten Volkspartei befürwortet. Diesen Teil will Bligg, der Erfinder der «Volksmusigg» und mehrfacher Platin-Alben-Besitzer, nicht verlieren. Deshalb rettet er sich in der Live-Sendung, in der er die Frage gestellt kriegt, mit einer Notlüge oder einer zuvor mit dem Management abgesprochenen Salamitaktik. Oder noch besser: Cervelat-Promi-Taktik.
Der Kampf um die DSI hat viele Leute neu politisiert. Wenn das so weitergeht, erleben wir eine Rückkehr zur tatsächlich gelebten direkten Demokratie.
Es handelt sich dabei um eine Verhaltensstörung, die grosse Teile der nationalen Prominenz befallen hat und sich auch in vielen anderen Gesellschaftsschichten breitmacht. Profisportler dürfen sich nicht äussern, weil sie ihre Sponsoren verärgern könnten, Moderatoren dürfen sich nicht äussern, weil sie das Publikum nicht beeinflussen sollen, Leute aus dem Dienstleistungs-Sektor dürfen sich nicht äussern, weil ihr Arbeitgeber keine Kunden verlieren will, und der normale Bürger sollte sich nicht äussern, weil er keine Ahnung von Politik hat.
Das Problem ist: Politik ist Alltag, Politik bestimmt über das Wertesystem unserer Gesellschaft oder umgekehrt, eine falsche Politik kann Krieg und Elend hervorrufen. Sie hat mit uns ganz persönlich zu tun, mit unseren Mitmenschen und unseren Nachfahren. Gerade in Zeiten globaler Instabilität und grassierender Verunsicherungen würde ich gerne wissen, was meine Mitmenschen, meine Vorgesetzten, meine Vorbilder denken. Und zwar ehrlich.
Wenn sich niemand mehr äussert, weil er niemanden verärgern will, ist das äusserst ärgerlich, eigenartig oder sogar verantwortungslos. Spätestens während des Abstimmungskampfs zur DSI hat ein Wandel stattgefunden. Die Leute haben gemerkt, dass die Politik ganz konkreten Einfluss auf ihr Leben und das ihrer Mitmenschen hat. Deshalb übernehmen immer mehr Menschen aus der Bevölkerung Verantwortung, äussern sich und sind dadurch politisch aktiv. Wenn das so weitergeht, erleben wir hier eine Rückkehr zur tatsächlich gelebten direkten Demokratie.
Wie viel Politik verträgt die Kunst? Die Frage ist eher: Wie wenig verträgt sie?
Diese Entwicklung ist unter anderem abhängig von öffentlichen Personen, die sich äussern – gerade Künstler und Musiker. Ich wurde kürzlich gefragt: Wie viel Politik verträgt die Kunst? Ich antwortete mit: Die Frage ist eher: Wie wenig verträgt sie? Doch viele sehen das anders. Wenn ich mich auf Facebook oder sonst wo politisch äussere, heisst es immer öfter: «Blib du gschider bi dire Musig!»
Dieser Satz macht mich doppelt wütend. Erstens, weil jeder, der meine Musik auch nur ansatzweise kennt, weiss, dass ich darin schon immer politische und gesellschaftliche Themen behandelte. Und zweitens, weil hier so eine klare Schublade «Musik» gemacht wird. Ein Musiker macht Musik, etwas mit Melodie und so, und damit hat es sich. Wehe, er verlässt den für Musiker festgelegten Bereich!
Überlassen wir das Politisieren nicht den Polterern und die Kommentarspalten nicht den beleidigten Leberwürsten.
Lassen wir uns nicht von diesem Quatsch beirren! Musiker, Bäcker, Pilotinnen und alle anderen: Lasst uns diskutieren und streiten – öffentlich, am Küchentisch und auf dem Stimmzettel. Überlassen wir das Politisieren nicht den Polterern und die Kommentarspalten nicht den beleidigten Leberwürsten. Solange wir Rassismus, Sexismus und Xenophobie nicht mit Meinung verwechseln, sollte jeder seine Ansichten äussern.
Ich persönlich finde sogar: In Zeiten, in denen es Multimilliardäre auf der einen und verhungernde Kinder auf der anderen Seite gibt, sollte sich ein Promi für die Schwächeren und mehr Toleranz aussprechen dürfen, ohne als Profilneurotiker verunglimpft zu werden. Und in Zeiten schrecklicher Kriege und von Menschen in unserer Nähe in Not müssten sich öffentliche Personen für Solidarität mit diesen Menschen aussprechen und plumpen Rassismus anprangern.
Also, lieber Bligg, wieso nächstes Mal nicht ungefähr so antworten? «Ich finde, jeder sollte sich seine Meinung selbst bilden, aber ich persönlich stimme bei dieser wichtigen Initiative …»