Gleich zwei sportliche Mega-Events bringt das Jahr 2014. In Sotschi und Brasilien vermischen sich Sport, Politik und Wirtschaft unentwirrbar. Das muss nicht nur schlecht sein.
Am 21. Januar war es wieder so weit. Ein alter Evergreen erklang. Kein Zufall, dass es Bernhard Russi war, der ihn zum Besten gab. Der Olympiasieger von 1972 wurde im «Echo der Zeit» zu seiner Haltung zu den Olympischen Winterspielen von Sotschi befragt. «Ich versuche, die Politik nicht mit dem Sport zu verbinden», sagte Russi, in Sotschi selbst als Architekt der olympischen Abfahrtsstrecke unternehmerisch aktiv. Klar, wahrscheinlich sei man mit gewissen «Dingen in Russland» nicht einverstanden: «Aber ich glaube nicht, dass der Sport die richtige Bühne ist, um diese Sachen zu diskutieren.»
Die Mär vom ach so unpolitischen Sport, sie wird noch ein paar Mal erzählt werden in diesem Jahr, in dem nicht nur die Olympischen Winterspiele stattfinden, sondern auch die Fussballweltmeisterschaft in Brasilien. Sie ist die bequemste und zugleich billigste Art, über alle moralischen Hürden zu hüpfen, die diese sportlichen Mega-Veranstaltungen mit sich bringen.
Erste Verkünder der einfachen Parole sind die grossen Sportverbände. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) und der Weltfussballverband Fifa haben sich die Trennung von Sport und Politik als Mantra angeeignet. Und einer wie Fifa-Präsident Joseph Blatter wirkt fast ehrlich überrumpelt, wenn sich die Wirklichkeit nicht an das von ihm propagierte Weltbild hält. So wie 2013 während der Demonstrationen und Ausschreitungen anlässlich des Konföderationen-Pokals in Brasilien, der Generalprobe zur WM.
Blatter begriff nicht, was geschehen war
Die Demonstranten hätten den Sport für ihre Zwecke gekapert, jammerte Blatter. Und wollte nicht verstehen, dass die Fifa selbst die Geister gerufen hatte, die auch die WM in diesem Sommer begleiten dürften.
Denn was tatsächlich zum Problem für die Verbände werden könnte: Immer weniger Menschen glauben an die einfachen Weisheiten, die ihnen vorgesetzt werden. Und das liegt nicht alleine daran, dass zumindest die Medien in den westlichen Demokratien bei jeder Grossveranstaltung noch genauer hinzuschauen scheinen, wenn es darum geht, über Missstände zu berichten.
Hauptgrund für die zunehmende Kritik an den grössten Sportveranstaltungen der Welt ist, wie offensichtlich es derzeit wird, dass in ihnen Sport, Wirtschaft und Politik zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen. Die kommenden Mega-Events werden allesamt in Staaten abgehalten, die sich nach internationaler Anerkennung sehnen. Und sie werden genutzt, um im Minimum Städte zu modernisieren, wie in Brasilien oder Russland. Oder gleich ganze Gesellschaften. Wie in Katar, wo der Emir sein Land mit aller Vehemenz und auch mithilfe des Sports für die Zeit nach dem Versiegen der Öl- und Gasquellen fit machen will.
Beliebte Prestige-Objekte
Fussball-Weltmeisterschaften und vor allem Olympische Spiele waren schon immer beliebte Prestigeprojekte für die austragenden Nationen. Es gab etwa die Nazi-Spiele von Berlin, Argentiniens Militärjunta wollte sich im Glanz der WM 1978 sonnen, und die Sommerspiele von Moskau (1980) und Los Angeles (1984) waren politisch derart aufgeladen, dass sich Ost- und Westblock gegenseitig boykottierten.
Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schien eine Phase der tatsächlich entpolitisierten Grossveranstaltungen angebrochen, die sich dafür zu immer gigantischeren Werbemaschinen entwickelten. Wenn es Aufreger gab, dann noch um die Korruption innerhalb der Verbände. Doch diese Zeit relativer Ruhe ist spätestens mit den Sommerspielen 2008 in Peking abgelaufen.
Seither haben das IOC und die Fifa gleich selbst dafür gesorgt, dass die Diskussionen nicht abflauen werden. Russland wird nicht nur die Winterspiele 2014 austragen, sondern auch die Fussball-WM 2018
Auf Russland und Brasilien folgen Brasilien und Russland
In Brasilien, wo sich hartnäckiger Widerstand gegen die Grossanlässe formiert hat, folgen zwei Jahre nach der WM 2014 schon die Sommerspiele. Und 2022 kommt, sozusagen als Krönung, die Fussball-WM in Katar. Südkorea (Winterspiele 2018) und Japan (Sommerspiele 2020) bilden da wohl die unaufgeregten Ausnahmen der Regel.
Und es deutet einiges darauf hin, dass auch in fernerer Zukunft Olympische Spiele und Fussball-Weltmeisterschaften in Staaten stattfinden werden, die aus westlich-demokratischer Sicht einige Probleme mit sich bringen. Was nicht allein am Auswahlverfahren der Verbände liegt. Sondern auch daran, dass derartige Mega-Events in westlichen Demokratien derzeit kaum mehr durchführbar scheinen. Das zeigt der verzweifelte Versuch, die Winterspiele 2022 an den Mann zu bringen. Nacheinander haben Graubünden, München und zuletzt Stockholm abgewinkt. Zu riesig scheinen die Investitionen, zu gross ist die Skepsis der Bevölkerung, dass der Staat bezahlt und die Verbände verdienen.
Aserbaidschan will – unbedingt
Was da noch bleibt, sind aufstrebende Nationen, die ihre neue Position in der Welt mit glänzenden Fassaden und reibungsloser Organisation beweisen wollen. Und autokratische Regimes, deren Machthaber in der internationalen Aufmerksamkeit baden wollen. Wie in Aserbaidschan, das maximales Interesse daran zeigt, endlich einen Grossanlass durchführen zu dürfen, nachdem die Bewerbungen um die Sommerspiele 2016 und 2020 erfolglos waren. Die Gier nach Anerkennung geht in Baku sogar so weit, dass die neu erfundenen Europaspiele 2015 hier ihre erste Austragung erleben werden – auf asiatischem Boden.
Man mag diese Entwicklung bedauern. Aufzuhalten sind die neuen Realitäten kaum. Und sie helfen sogar, den Blick zu schärfen. Das ist eben auch eine neue Tendenz: Sportliche Mega-Events ziehen derart viel Aufmerksamkeit auf sich, dass sie sich nicht mehr als rein positive Geschichte verkaufen lassen.
Wer würde sich für Katars Baustellen interessieren?
Katar, erst 2022 Gastgeber der Fussball-WM, steht bereits jetzt unter derart starker internationaler Beobachtung wie nie seit dem ersten Irakkrieg von 1990 bis 1991. Wer hätte sich schon für die menschenverachtenden Bedingungen auf Katars Baustellen interessiert, würden dort nicht WM-Stadien entstehen?
Der eben als Fifa-Reformer zurückgetretene Basler Strafrechtsprofessor Mark Pieth ist nicht der Einzige, der hofft, «der Druck und das öffentliche Interesse könnten so gross werden, dass eine demokratische Bewegung im Land möglich wird».
Das mag vielleicht eine etwas gar optimistische Sicht sein. In Brasilien aber haben jene, die zu den Verlierern der Grossanlässe gehören, immerhin erreicht, dass sie öffentlich gehört werden. Ganze Stadtteile wurden und werden hier unter den Etiketten der Fussball-WM und der Olympischen Spiele 2016 umgepflügt.
Gentrifizierung auf die harte Tour
Eine Gentrifizierung der extremen Sorte, wie Raquel Rolnik, die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, konstatiert: Nicht zum ersten Mal würden Enteignungen zum Geschäft für jene Grundeigentümer, «die es schafften, Einfluss zu nehmen auf den Ort öffentlicher Bauvorhaben und dann ihre Grundstücke zu hohen Preisen veräussern konnten».
In Brasilien selbst waren diese zum Teil brutalen Vertreibungen lange kein Thema. Bis sich während der WM-Hauptprobe 2013 der Frust des Mittelstandes mit der Wut der Unterschicht verband. Seither gibt es wenigstens einen Regierungserlass, der Zwangsräumungen regelt. «Die Lösung ist noch in weiter Ferne», konstatiert Rolnik zwar. Aber auch: «Der Erlass ist ein Schritt in die Richtung, um das Problem zu lösen.»
Standing Ovations der freien russischen Presse
In Russland wiederum hatte Wladimir Putin mal als Präsident, mal als Ministerpräsident sein ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen, als es darum ging, die Winterspiele 2014 und die Fussball-WM 2018 in sein Land zu holen. Wer Putin nach der Vergabe der WM an Russland unter stehendem Applaus der freien russischen Presse ins Zürcher Hallenstadion hat marschieren sehen, weiss, wie sehr diese Veranstaltungen seine eigenen Prestigeprojekte sind.
Was Putin möglicherweise nicht einberechnet hatte: Dass die Grossanlässe das Ausland nicht bloss dazu bringen, andächtig die russische Pracht und Herrlichkeit zu bestaunen. Sondern dass der Blick auch auf die Korruption fallen würde, die die Kosten für das Lifting des abgetakelten Kurorts Sotschi auf absurde 50 Milliarden Franken hat anwachsen lassen. Oder auf die antidemokratischen Tendenzen seiner Regierung. Oder auf die homophobe Gesetzgebung.
Ein Sportler, der nicht still ist
Der Neuseeländer Blake Skjellerup jedenfalls wird an den Winterspielen einer der gefragtesten Sportler überhaupt sein. Nicht, weil von ihm im Shorttrack grosse Dinge zu erwarten sind, aber weil er öffentlich dazu steht, homosexuell zu sein. Und weil er sich in Sotschi nicht wie viele andere Sportler still verhalten will, sondern gegen die schwulenfeindlichen russischen Gesetze protestieren wird.
Bernhard Russi hat nicht recht, wenn er glaubt, dass der Sport nicht die richtige Plattform ist, um politische Fragen zu diskutieren. Der Sport bietet dafür nicht nur die Plattform, er liefert sogar auch gleich noch das mediale Scheinwerferlicht.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 24.01.14