Die Unia-Jugendsekretärin Franziska Stier über die neue Generation von Linken, die von den alten Polithasen unterschätzt wird.
«Von wegen unpolitische Jugend», meint die 29-jährige Franziska Stier. Bei den linken Jugendorganisationen verzeichnet die Basler Unia-Jugendsekretärin seit Jahren einen Mitgliederzuwachs. Und, im Unterschied zu früheren Generationen seien die neuen jungen Linken offener, lustvoller, dynamischer – und auch erfolgreicher.
In den 80er- und 90er-Jahren machten die Jugendverbände der Gewerkschaften eine eher schlechte Figur. Heute bilden die Jungen an 1.-Mai-Aufmärschen oft den grössten Demonstrationsblock. Haben die Jungen den Klassenkampf neu entdeckt?
Die jungen Leute sind ja nicht blöd. Sie wissen aus den Medien, dass sie überwacht werden, dass die Reichen – auch bei uns – immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Ein 16-Jähriger in einer soliden Berufslehre weiss schon jetzt, dass er beruflich kaum Perspektiven hat. Dass sein Beruf in zehn Jahren in dieser Form vielleicht gar nicht mehr existiert, dass er im Tieflohnsektor steckenbleibt und ein Leben lang von Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg bedroht sein wird.
Übertreiben Sie jetzt nicht ein bisschen?
Im Gegensatz zu Jugendlichen in früheren Bewegungen haben die heutigen Jungen tatsächlich oft mit Existenzängsten zu kämpfen. Neben den typischen jungen Anliegen – mehr Freiräume und Alternativkultur – spielen die Themen Einkommen und Auskommen heute eine viel grössere Rolle als noch vor zehn Jahren. Alle Jugendorganisationen hatten in den letzten zehn Jahren Zulauf, weil sie sich für die eigene Existenzsicherung, aber auch für globale Gerechtigkeit einsetzen.
Die früheren Bewegungen haben sich mit ähnlichen Fragen beschäftigt. Aber die Einstellung gegenüber den Gewerkschaften war doch eher von Misstrauen bis offener Feindseligkeit geprägt. Wie ist dieser Sinneswandel zu interpretieren?
Seit der Gründung der Unia treten die Gewerkschaften kämpferischer und in allen sozialpolitischen Fragen präsenter auf als früher. Ausserdem kümmern sie sich mehr um die unteren Lohnklassen, um Menschen mit prekären Arbeitsbedingungen und um Migranten. Die Unia etwa ist in den Niedriglohnsektoren präsent und nicht mehr nur in der Industrie, was längst überfällig war. Ausserdem sind die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mehr auf der Strasse und bei den Leuten. Das ist für die jungen Leute natürlich viel attraktiver als die Politik der Altherrenclubs von einst.
In der Unia-Jugend tummeln sich heute weniger die klassischen Stifte, sondern Jugendliche, die bereits politisch aktiv und organisiert sind: von den Jusos über sozialistische Splittergruppen bis hin zu Vertretern der Anarchistenszene. Hätte man vor 20 Jahren einen solchen Szenenmix in einem Sitzungszimmer versammelt, hätte es eher eine Schlägerei als einen Beschluss gegeben.
Die junge Linke ist offener und lustvoller als früher und auch viel durchmischter. Das ist auch in unserer Gewerkschaft so. Statt sich um jeden Preis durchsetzen zu wollen, suchen die unterschiedlichen Interessengruppen nach Gemeinsamkeiten und einem Konsens, um in Themen wie der Bildungspolitik möglichst stark und einig auftreten zu können. Und man hält sich an die Abmachungen.
Haben sich auch die politischen Methoden verändert?
Die Protestkultur ist eine andere geworden. Statt sturer Parolenmärsche wie in den 1980er-Jahren finden heute Flashmobs oder kreative Demos in Form von mobilen Partys statt. Dort lernen sich die jungen Leute kennen und verschiedene Szenen treffen aufeinander. Wenn die Polizei solche harmlosen Veranstaltungen mit brutaler Gewalt auflöst, bringt das Leute aus unterschiedlichen Lagern zusammen. Es kommt zu Diskussionen, bei denen die weniger politischen Jugendlichen von den anderen politisiert werden.
«Statt der sturen Parolenmärsche von einst finden heute kreative Demos statt.»
Interessant ist, dass auch Junge vom ganz linken Flügel, die sich früher der institutionellen Politik verweigerten, heute aktiv in Abstimmungskämpfen mitmachen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Wie gesagt: Die Linke ist offener geworden. Es gilt heute eher die Parole, das eine tun und das andere nicht lassen. Nur so erreicht man mit seinen ureigenen Anliegen möglichst viele Menschen.
Heute diskutieren linke Jugendliche auf erstaunlich hohem politischem Niveau. Früher hatten gerade radikale Gruppen oft wenig fundiertes theoretisches Wissen. Woher kommt das? Gibt es wieder mehr Lesezirkel?
Die berüchtigten Lesezirkel gibt es noch immer. Aber ich glaube, die Leute beschaffen sich ihre Hintergrundinformationen autonom und flexibel im Internet. Früher musste man, um den Begriff Dialektik im marxistischen Sinn zu begreifen, dicke, für normale Menschen kaum verständliche Wälzer durchackern. Heute findet man mit ein paar Mausklicks eloquente und leicht verständliche Zusammenfassungen.
Die neue Szene wirkt wenig wahrnehmbar, weil sie sich auf verschiedene kleine Treffpunkte verteilt. Sie ist aber in der Lage, in wenigen Tagen Hunderte von Leuten zu mobilisieren, ohne dass irgend jemand Flugblätter verteilt oder grossflächig Plakate klebt.
In wenigen Tagen? In wenigen Stunden! Nach dem Abstimmungsentscheid zur SVP-Masseneinwanderungsinitiative hat mich ein Freund angerufen und gesagt: «Das geht doch nicht. Wir müssen eine Demo machen.» Und so ging es dann los. Es wurde eine Facebook- und SMS-Lawine gestartet – und vier Stunden später, an einem kalten Sonntagabend, waren zeitweilig bis zu 1000 Leute auf der Strasse.
Steht Basel womöglich ein heisser Sommer oder ein heisser Herbst bevor? Die Auseinandersetzungen um die Nutzung des öffentlichen Raums, die Stadtplanung und den Wagenplatz am Hafen spitzen sich zu. Und im Dezember steht die OSZE-Ministerkonferenz an, bewacht von einem Grossaufgebot aus Polizei und Armee.
Es wird natürlich Proteste geben. Gerade bei der Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) könnte sehr breit mobilisiert werden. Eine Eskalation erwarte ich aber höchstens von der Gegenseite.