Die Piraten machen klar zum Ändern

In Deutschland stürmt die Piratenpartei die Parlamente, nun soll die Schweiz folgen. Erste Station: das Basler Rathaus.

(Bild: ddp images)

In Deutschland stürmt die Piratenpartei die Parlamente, nun soll die Schweiz folgen. Erste Station: das Basler Rathaus.

Wie es um die innere Verfassung der deutschen Piratenpartei steht, das brachte Marina Weisband kürzlich ziemlich genau auf den Punkt. Auf Twitter (wo auch sonst) schrieb die politische Geschäftsführerin der Piraten: «Wisst ihr noch, als wir gesagt haben, es würde irgendwann schwierig werden, wir selbst zu bleiben? Jetzt fängt das an. Also aufgemerkt. 🙂»

Ja, es wird ernst für Weisband und ihre etwas über 24 000 Follower auf Twitter. Ihre Partei kommt in den aktuellen Umfragen bundesweit auf über 13 Prozent, bei den Landtagswahlen im Saarland haben die Piraten vor ein paar Wochen 7,4 Prozent der Stimmen und vier Sitze gemacht, und Deutschland, man kann es nicht anders sagen, hält den Atem an. Als die Berliner Piratenpartei vor einem Jahr erstmals ins Abgeordnetenhaus einzog, da kümmerte sich nicht der Politikteil der Zeitungen um den Erfolg – sondern die Digitalredaktion. Für die Medien waren die Piraten damals eine lustige Episode, ein Glückstreffer von Nerds und Aussenseitern, die nicht ernster zu nehmen seien als ein tausendfach geklicktes You-tube-Video oder dieses Twittern.

Mit dem Erfolg im Saarland hat in Deutschland ein rasches und radikales Umdenken stattgefunden. Die grossen Magazine widmen der Partei lange Geschichten, in Hunderten Essays (im Feuilleton!) wird versucht, des Phänomens habhaft zu werden, der Boulevard schlachtet genüsslich die in aller Öffentlichkeit stattfindenden Streitereien an der Parteispitze aus, und in Talkshows bestaunt die interessierte Öffentlichkeit Piraten wie Christopher Lauer. Ein Berliner Abgeordneter, der als Joschka Fischer der Piraten gilt und seinen Mitparlamentariern in Berlin dann und wann unverblümt die Meinung sagt. «Sie sollten sich schämen!», schrie Lauer im Parlament, als er seine Mitpiraten sehr ernsthaft als uncoole Aussenseiter bezeichnete und dafür ein mitleidiges «Oooh» zu hören bekam.

Nun ist es Lauer, der «Oooh» macht. Überrascht über ihren Aufstieg, das seien nur die andern: «Wir haben uns vier Jahre den Arsch aufgerissen, was natürlich zum Erfolg führt», sagt Lauer im Interview mit der TagesWoche.

Das Gegenkonzept

Tatsächlich scheint es, wenn man sich mit den verschiedenen Exponenten der Partei etwas länger unterhält, gar nicht mehr so kompliziert, wie uns das deutsche Feuilleton weismachen will. Die Piraten machen nichts anderes, als die Lebensrealität der Internet-Generation in die Politik zu übersetzen. Mit «Liquid Democracy» (siehe dazu: Die noch direktere Demokratie) transportieren die Piraten die aktiven und passiven Formen der Teilhabe im Internet in die politische Meinungsbildung. Es ist das Gegenkonzept zu den konventionellen Parteien, bei denen jedes Thema durch einen jahrzehntelang erprobten und austarierten Ideologiefilter geschleust wird und am Schluss eine Meinung steht. Bei den Piraten funktioniert das anders: Sie erarbeiten sich jedes Thema anhand vager Grundsätze neu – und sind darum inhaltlich auch so schwer zu fassen. Sie sind einmal links (bei der Unterstützung des bedingungslosen Grundeinkommens zum Beispiel) oder einmal liberal (mit dem Beharren auf absoluter Anonymität im Internet). Das Verzichten auf einen Ideologie-Filter (oder das Fehlen des Filters) bietet denn auch die grösste Angriffsfläche in der nun beginnenden Debatte in Deutschland und anderswo. Dabei sind die Piraten nur konsequent: Wer hat denn ernsthaft zu allem eine echte Meinung?

Dass das Konzept der Piraten vor allem in Deutschland so gut funktioniert, ist nicht weiter verwunderlich. Die grossen Parteien, links oder rechts, haben sich in der öffentlichen Wahrnehmung schon lange von der Bevölkerung distanziert. In Stuttgart ertrotzten sich Demonstranten eine Abstimmung über ihren Bahnhof, in Berlin und Frankfurt gehen die Menschen gegen Fluglärm auf die Strasse und fordern mehr politische Partizipation. Der Erfolg der Piraten ist Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses der deutschen Bevölkerung nach direkter politischer Teilhabe; eine Antwort auf die etablierte Politik, die in den vergangenen 20 Jahren keinen Platz mehr für neue Parteien gelassen hat.

Die Schweizer Piraten wollen endlich in ein grosses Parlament, am liebsten schon nach den Wahlen vom 28. Oktober in Basel. Dafür müsste die Partei in einem Wahlkreis mehr als vier Prozent der Stimmen holen. Bei den nationalen Wahlen im vergangenen Herbst haben die Schweizer Piraten ihr Ziel, in den Nationalrat einzuziehen, noch klar verfehlt. Etwas Mut machte wenigstens das Resultat in Basel (1,9 Prozent). Eine Folge des mässigen Ergebnisses war der Wechsel an der Spitze der Schweizer Partei von Denis Simonet zu Thomas Bruderer. Das bisher auch im Vergleich zu anderen Länderparteien eher vage Programm der Schweizer Piraten erklärte Simonet nach der Wahlniederlage damit, dass der Schweizer Ableger noch realtiv jung sei (Gründung: 2009). Ihren Anfang hatte die heute hauptsächlich in Europa verbreitete Piraten-Bewegung Anfang 2006 in Schweden. Ihre Bezeichnung stammt von der Anti-Copyright-Organisation Piratbyrån.

Und der Erfolg ist auch ein Fluch für die Schweizer Piraten. Es ist ein Montagabend im April und in einem Hinterzimmer des Berner Restaurants O’Bolles sitzen der alte und der neue Präsident der Piratenpartei am wöchentlich stattfindenden Stammtisch und versuchen – nicht zum ersten Mal seit den Wahlen im Saarland – die Erwartungen zu dämpfen. «Wir haben ganz andere Voraussetzungen», sagt Denis Simonet, der alte Präsident. «Im Schweizer Milizsystem können alle mitmachen. Das ist in Deutschland nicht so», sagt Thomas Bruderer, seit April der neue Präsident. Die direkte Demokratie mit ihren Referenden und Volksabstimmungen als Vorläufer von «Liquid Democracy» verunmögliche die grosse Systemdiskussion in der Schweiz und verlangsame die gesamte Dynamik.

Mögen die äusseren Umstände auch verschieden sein, inhaltlich treffen sich die Schweizer Piraten mit ihren Mitstreitern im restlichen Europa. «Für uns ist das Internet gleich wichtig wie das richtige Leben», sagt Thomas Bruderer, und es braucht nur einen Blick auf die bisher von den Piraten bearbeiteten Themen (und auf die nicht bearbeiteten), um die Ernsthaftigkeit dieser Aussage zu ermessen. Neben den piratenüblichen Urheberrechtsdiskussionen hat die Partei quasi im Alleingang das multilaterale Fälschungsabkommen «Acta» auf die Traktandenliste der Politik gebracht. Im Protest gegen «Acta», bei dessen Ratifizierung grosse Einschränkungen bei der Benutzung des Internets befürchtet werden, sind die Schweizer Piraten nur ein kleiner Akteur in einem europaweit organisierten Widerstand. Aber es ist ihr Verdienst, dass sich die etablierten Parteien in der Schweiz überhaupt mit dem Abkommen auseinandergesetzt haben – und nun mehrheitlich von einer Unterzeichnung abraten. «Wir wurden sehr gut aufgenommen im Politsystem», sagt Simonet, «alle reden mit uns.»

Der schwierige Weg in die Parlamente

Dabei legen Schweizer Piraten eine ähnliche ideologische Offenheit an den Tag wie ihre deutschen Kollegen. Simonet, bis im April die prägende und treibende Kraft der Partei, erhielt seinen Bundeshausbadge von SVP-Nationalrat Lukas Reimann (mit dem er gegen die Buchpreisbindung opponierte) und arbeitete gleichzeitig eng mit dem Grünen Nationalrat Balthasar Glättli zusammen (beim «Acta»-Widerstand). Der grosse Unterschied zur deutschen Partei ist, dass die Schweizer Piraten noch existenziell auf bereits etablierte Politiker angewiesen sind. Mit einer Ausnahme (im Gemeinderat von Winterthur) haben sie noch keine parlamentarische Verantwortung. Das soll sich ändern. National strebt Thomas Bruderer BDP-Grösse an. Wie konkret das gehen soll? Das ist noch nicht bis ins letzte Detail fixiert. Klar ist: Die Grundlage für einen nationalen Erfolg muss in den Kantonen gelegt werden. Zum Beispiel in Basel. «Wir setzen gros­se Hoffnungen auf diese Stadt», sagt Bruderer.

Hier trifft sich die virtuelle Avantgarde im Unternehmen Mitte mit dem guten Gefühl, Teil von etwas Grossem zu sein, einer weltweiten Revolution, die eben erst begonnen hat. Die Erfolge in Deutschland machen den Basler Piraten Mut und setzen sie gleichzeitig unter Druck. «Jetzt sind wir dran. Im Herbst müssen wir den Grossen Rat entern», sagen sie alle, die an diesem Samstag an den Piratenstamm gekommen sind.

Allzu viele sind es nicht, nur sieben, und doch ist alles da, was es braucht: Informatikspezialisten, Buchhalter, Forscher, Arbeiter und sogar eine Frau aus der «sozialen Ecke», wie es bei der Vorstellung heisst. Eine Frau auf sechs Männer – für Piraten ein sehr respektables Verhältnis, was für sie selber allerdings absolut kein Thema ist. Die Piraten sind nämlich postgender; Mann oder Frau, das ist ihnen egal.

Gender wird an diesem Mittag in der «Mitte» nicht angesprochen. Dafür alles andere, was sich innerhalb von ein, zwei Stunden verhandeln lässt: Vollgeld­reform, bedingungsloses Grundeinkommen, der alte IBM 360 (mit Magnetkarte!), Ökostadt, Spaghettimonster-Religion und Internet, immer wieder Internet. An diesem Stammtisch ist jedes Thema interessant und irgendwie wichtig. Schon bald überrascht einen überhaupt nichts mehr – oder höchstens noch die Computer- und Smartphone-Probleme, die selbst die Piraten manchmal haben, wenn sie zwischen zwei Exkursen versuchen, die Restwelt mit einem Tweet up to date zu halten. Trotz den kleineren Schwierigkeiten sind die Piraten zufrieden mit sich und ihrem Stamm. «Wir können wirklich neue Ideen generieren, die Welt neu denken, das ist in keiner anderen Partei möglich», sagt Peter Hunziker, auch Stammtisch-Guru genannt.

Die schwierige Aufgabe, die vielen Ideen zu kanalisieren, kommt Cedric Meury zu. Der 28-Jährige ist Präsident der Piratenpartei beider Basel, er hat Biologie studiert und arbeitet heute als Software-Ingenieur. Früher sympathisierte er mit der SP. Einer herkömmlichen Partei beizutreten, wäre für ihn aber nie in Frage gekommen, das wäre ihm zu einengend, zu langweilig auch. Meury ist Mitglied der Freidenker, sein Thema die Freiheit, die Freiheit des Individuums, nicht der grossen Konzerne, diese Unterscheidung ist ihm wichtig. «Die Entwicklung ist beängstigend», sagt Meury: «Es werden immer mehr Daten über uns gesammelt, nicht nur bei Google oder Facebook, sondern auch bei Migros und Coop an der Kasse. Das muss gestoppt werden.»

Um Freiheit und Selbstentfaltung geht es ihm auch in der kantonalen Politik. Meury will gegen Videoüberwachung und strenge Kontrollen rund um Fussballspiele kämpfen, für gute ÖV-Verbindungen und neue Projekte wie den Central Park Basel beim Bahnhof. Zudem bereiten er und seine Mitstreiter eine Initiative vor, die eine bürgernahe Verwaltung bringen soll. Das Mittel dazu ist – wie so häufig bei dieser Partei – das Internet. Das klingt alles ganz nett, nach urbanem Mainstream schon fast. Aber damit geben sich die Piraten nicht zufrieden. Eine Revolution soll es auch in Basel sein, zumindest eine kleine. Die Piraten wollen sich hier ebenfalls konsequent für die Freiheit der Ideen einsetzen. Und damit gegen Patente. Eine heikle Forderung in einer Stadt, die von der Pharma und ihren Rechten lebt und das erst noch recht gut.

Freundliches Mitleid

Die anderen Parteien zeigen dennoch bemerkenswert viel Wohlwollen gegenüber der neuen Konkurrenz, wie eine kleine Umfrage der TagesWoche bei einer Reihe eher jüngerer Basler Grossräte zeigt. «Eine neue Sicht tut dem Politbetrieb immer gut», sagt zum Beispiel SVP-Präsident Sebastian Frehner. Ganz ähnlich äussert sich Emmanuel Ullmann, Regierungsratskandidat der Grünliberalen: «Neue Ideen wirken auf Parlament und Gesellschaft immer bereichernd.» Persönlich würde er sich freuen, sagt Ullmann, wenn er im Grossen Rat dank der Piraten zur Abwechslung auch mal über Laizismus, mediale Gewalt und Urheberrechte diskutieren könnte.

Einer, der wenigen, die sich dezidiert negativ äus-sern, ist der Liberale Conradin Cramer. Mit ihrer Forderung nach einer grundlegenden Neudefinition der Urheberrechte seien die Piraten im besten Fall naiv und im schlechten Fall ein Unglück für alle, die Kopf- und Kreativarbeit leisten. Andere wie Tobit Schäfer (SP) oder Christian Egeler (FDP) reagieren eher belustigt auf die Piraten und ihre Themenarmut. Schäfer spricht von einer neuen «Linkspartei mit Internetanschluss», Egeler fragt sich, was auch danach noch alles auf das politische Basel zukommen wird. Eine Rentner-Fraktion, eine Anti-Ausländer-Partei, eine Integrations-Bewegung oder vielleicht sogar eine Vegetarierin-Gruppierung?

Ganz ernst werden die Piraten in Basel und in der Schweiz offensichtlich noch immer nicht genommen. Die Vorgabe, in mindestens einem Wahlkreis vier Prozent der Stimmen zu holen, würden sie nie und nimmer schaffen, sagen sie alle in den übrigen Parteien. Dafür fehlten der Partei ein klares Programm und bekannte Köpfe.

Das könnte den Piraten noch egal sein. In Deutschland hat man ihnen bis vor einem Jahr auch noch gar nichts zugetraut. Deutlich mehr Sorgen müssten ihnen die geradezu freundlichen Worte machen, mit denen sie in der Politik empfangen werden, und die allgemeine Zufriedenheit, die in der Schweiz trotz Krisen allenthalben immer noch zu spüren ist. Um wirklich Erfolg zu haben, das hat das Beispiel in Deutschland eindrücklich gezeigt, braucht es für unkonventionelle Parteien wie die Piraten die richtige Mischung aus Ablehnung des Establishments und Unzufriedenheit der Bevölkerung. Sonst wird das nichts mit dem Entern.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.04.12

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