Warum die Jurassier aus anderem Holz geschnitzt sind als ihre Schweizer Landsleute.
Es war ein Gefühl grenzenloser Freiheit, das mich ergriff, als ich vor über 30 Jahren erstmals auf den Rochers des Sommêtres stand. Und nie werde ich den Satz vergessen, den der knorrige Führer uns Schülern beiläufig auf den Weg mitgab: «Wir Jurassier sind dem Himmel ein Stück näher.»
Es folgten viele weitere Touren durch den Jurabogen mit seinen atemberaubenden Landschaften und Menschen, die aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein scheinen als die Landsleute in der Restschweiz: eigensinniger, kompromissloser, aufmüpfiger.
Es gibt einige Erklärungen für den rauen Charme der Jurassier. Etwa, dass die wilde Natur die Leute geprägt habe. Mag sein.
Schon immer war der Jura Zufluchtsort für Abweichler.
Interessanter ist der historische Deutungsansatz. Schon immer war der Jura Zufluchtsort für Abweichler. Im 17. Jahrhundert fanden Mennoniten und Wiedertäufer, die von der Berner Herrschaft verfolgt wurden, hier Asyl.
Oder 1872. Damals konstituierte sich in St-Imier die «Antiautoritäre Internationale», eine anarchistische Organisation, die Karl Marx’ zentralistische Ideen ablehnte und eine antiautoritär-föderale Gesellschaftsform anstrebte. Noch immer weht Widerstandsgeist durch das 4700-Seelen-Nest: Als St-Imier 2012 erneut zu einem «Internationalen anarchistischen Treffen» lud, folgten 3000 Freigeister aus aller Welt dem Ruf, was sogar dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» im fernen Hamburg einen Bericht wert war.
Und dann natürlich: «Jura libre!» Der Kampf der Pro-Jurassier gegen die Pro-Berner vor der Kantonsgründung (1979) emotionalisierte eine ganze Generation, riss Freundschaften und Familien auseinander und kommt nun, 35 Jahre später, nochmals aufs Tapet: Dieses Wochenende müssen die Stimmberechtigten des Kantons Jura und des Berner Juras eine alte Frage neu beantworten – ob sie weiterhin getrennt bleiben oder endlich zusammenkommen wollen.
Was bewegt die Menschen vor Ort? Wie denken sie über die «Jurafrage»? Die TagesWoche ist eine Woche lang zwischen Schelten und La Ferrière auf Reportage gegangen. Es war eine Reise in eine Terra incognita.
Artikelgeschichte
Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 22.11.13