Der Literaturnobelpreis 2012 geht an den 57-jährigen chinesischen Autor Mo Yan, der «mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint», so die Begründung der Schwedischen Akademie in Stockholm. Ein literarischer, kein politischer Entscheid, urteilt Professorin Daria Berg von der Universität St. Gallen.
Daria Berg, 1964 geboren, studierte Sinologie in ihrer Heimatstadt München, aber auch in Shanghai, Taipei, Oxford, Tokyo und Kyoto. 1995 promovierte sie in chinesischer Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Oxford. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kultur und Gesellschaft an der Universität St. Gallen und lebt in der Schweiz.
Frau Berg, wie bekannt ist Ihnen Mo Yan?
(Bild: zVg)
Mo Yan ist ein bekannter Schriftsteller, aber er ist weder der berühmteste noch der beliebteste Autor in China. Im Westen ist er möglicherweise bekannter als andere chinesische Schriftsteller geworden, vor allem durch Zhang Yimous Film «Das rote Kornfeld» (1987), der auf Mo Yans gleichnamigem Roman basiert, sowie auch durch eine relativ grosse Anzahl an Übersetzungen in westliche Sprachen. Mo Yan hat sich mit seinen Beschreibungen der Geschichte Chinas im 20. Jahrhundert und der Beschreibung des Lebens auf dem Lande hervorgetan. Seine Verbundenheit mit der Natur wird nicht nur sichtbar in den Beschreibungen des Landlebens und der Natur, sondern auch in der Körperlichkeit seiner Werke, der körperlich gefühlten Erfahrung und der Emotionen auf sexueller und gewaltsamer Ebene.
In der Begründung der Auszeichnung wird die Verschmelzung der Vergangenheit mit der Gegenwart in seinen Werken gewürdigt. Wie sehen Sie diese Leistung?
Das Nobelpreiskomittee hat Mo Yan für seinen «halluzinatorische Realismus» gepriesen. Im Versuch, das Werk von Mo Yan zu beschreiben, wird der Autor mit Schriftstellern wie Gabriel Garcia Marquez, Kafka, Günter Grass, William Faulkner und Charles Dickens verglichen. Aber solche Vergleiche übersehen schnell die lange Geschichte, Tiefe und Bandbreite der chinesischen Literatur, die sich schon seit Jahrhunderten mit den Schnittstellen von Fantasie, Visionen, Traumvorstellungen, der Geisterwelt und der empfundenen Realität auseinandersetzt. Mo Yan gilt zwar als einer der Begründer des neuen historischen Romans, aber der Blick auf das historische Landleben in seinen Werken hat eher etwas mit der Suche nach den Wurzeln der chinesischen Kultur, der Zivilisation und des Individuums zu tun, die viele chinesische Intellektuelle seit Anfang der Reformära in den 1980er Jahren beschäftigt hat. Dies stellt auch eine Wende weg von den traditionellen sozialistischen Helden der Mao-Zeit dar.
Wie behandelt er die kommunistische Geschichte Chinas?
Mo Yan reflektiert die Gegenwart und die Geschichte des 20. Jahrhunderts von der Boxerrebellion über die Kulturrevolution bis zur Ein-Kind-Familie. Er schreibt nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Geschichte der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas und deren Auswirkungen, wobei er die dunklen Seiten dieser Herrschaft nicht verschweigt. Sein Pseudonym, das sich mit «Sag nichts» übersetzen lässt, bezieht sich gemäss einer Aussage des Autors auf seine Jugend in der Mao-Zeit, zu der es gefährlich war, seine Meinung offen heraus zu verkünden.
Welchen Stellenwert besitzt seine Literatur für die chinesischen Machthaber?
Mo Yan ist ein Angestellter des chinesischen Schriftstellerverbunds und dessen Vize-Präsident. Er bezieht sein Gehalt und seine Sozialversicherung von der Regierung und will diese nicht verlieren, wie er gesagt hat. Er greift nicht die Kommunistische Partei Chinas an, aber kritisiert dennoch die Gesellschaft. Daher sind auch zwei seiner Werke, «Die Knoblauchrevolte» (1988) und «Die Republik des Weines» (1992) von der Regierung verboten worden. Aber die Regierung fürchtet ihn nicht als Regimekritiker. Als auf der Frankfurter Buchmesse chinesische Dissidenten erschienen, ist er mit der chinesischen Delegation hinausgegangen, um sich solidarisch mit der Regierung zu zeigen.
Das heisst, unter Chinas Dissidenten ist seine Wertschätzung gering?
Chinesische Dissidenten wie Ai Weiwei kritisieren ihn als einen Befürworter der Regierung, der die Kritik an der gegenwärtigen Politik zugunsten eines angenehmen Lebensstils ablehnt. Die Regierung hat einige seiner Werke zwar verboten, aber insgesamt ist die offizielle Reaktion auf seine Anerkennung durch den Nobelpreis sehr positiv. Das chinesische Fernsehen hat die TV-Nachrichten unterbrochen, um die Ankündigung zu vermelden und China feiert seine Ehrung, da der Nobelpreis an einen chinesischen Autoren zum Nationalstolz beiträgt und einen Ehrung Chinas im kulturellen Bereich auch allgemein darstellt.
Hat der Stockholmer Entschied eine politische Note, oder ist er rein literarisch zu werten?
Das Nobelkomitee ist neutral. Die Entscheidung, Mo Yan den Nobelpreis zu verleihen, beruht auf seinem literarischen Werk und seiner literarischen Leistung. Mo Yan bezieht sich auf beliebte literarische Vorbilder wie Marquez und überträgt diese in den chinesischen Kontext, ins chinesische historische und zeitgenössische Umfeld. Der Einfluss auf den politischen Aktivismus ist auf der anderen Seite bei Mo Yan auch bestenfalls nur gering, obwohl er Sozialkritik übt und sein gesellschaftliches Gewissen ihn in seiner Themenwahl leitet.
Was bedeutet die Auszeichnung für die chinesische Gegenwartsliteratur? Und für Mo Yans persönliche Reputation in China?
Er hat verkündet, dass er so weitermachen will mit seiner Schriftstellerei wie zuvor. Aber für die Regierung ist der Preis natürlich eine Anerkennung der chinesischen Literatur und Kultur in der ganzen Welt, im Gegensatz zur Vergabe des Friedensnobelpreises 2010 an den Dissidenten Liu Xiaobo. Die Regierungsdevise, die kulturellen Leistungen Chinas zu stärken und nach aussen zu tragen, wird durch die Preisverleihung in höchstem Masse verstärkt und stellt sich im Mittelpunkt der Medien der ganzen Welt in sehr positivem Licht dar. Aber die Auswirkungen auf die chinesische Literatur werden relativ gering sein, weil Mo Yans Werk nicht unbedingt als der einzige Mittelpunkt der chinesischen Kulturszene gilt und es viele verschiedene Autoren mit unterschiedlichen Richtungen gibt, die ebenfalls so weitermachen werden. Mo Yans Ruhm im Westen beruht wie erwähnt zu einem grossen Teil auf der Verfilmung seiner Bücher und den zahlreichen Übersetzungen, im Gegensatz zu anderen chinesischen Autoren. Es ist jedoch zu hoffen, dass durch den Preis viel mehr Menschen ausserhalb von China nun etwas über die reiche chinesische Gegenwartsliteratur lernen und sich dafür zu interessieren beginnen.