Die Reise auf die erlösende Seite des Zauns

Hauptmann Gallego und seine Männer kämpfen gegen die Anstürme von afrikanischen Migranten im spanischen Melilla. Ibrahim aus Kamerun hat es zusammen mit Hunderten anderen trotzdem über den millionenteuren Grenzzaun geschafft. Eine Reportage vom südlichsten Rand Europas.

Melilla, 2.8.2014 Ibrahim Moussa, afrikanischer Migrant, vor dem Grenzzaun in der spanischen Enklave Melilla in Marokko. Der Zaun trennt Marokko mit Spanien. Jedes Jahr versuchen tausende Migranten über den Grenzzaun auf spanischen Boden zu gelangen. Foto (Bild: Pascal Mora)

Hauptmann Gallego und seine Männer kämpfen gegen die Anstürme von afrikanischen Migranten im spanischen Melilla. Ibrahim aus Kamerun hat es zusammen mit Hunderten anderen trotzdem über den millionenteuren Grenzzaun geschafft. Eine Reportage vom südlichsten Rand Europas.

Als er Ibrahim sieht, verzieht Hauptmann Gallego das Gesicht. Er ist sichtlich enttäuscht. Gestern hat er uns den Zaun rauf und runter chauffiert, seinen Zaun, und uns alles erklärt: Wie sie kommen, warum sie nicht kommen dürfen, und dass das alles ein «fettes Problem» sei, für das er auch keine Lösung habe. Er hat sich klar ausgedrückt und war freundlich geblieben.

Jetzt spazieren Ibrahim und ich an dem Tisch draussen vor dem Casino Militar von Melilla vorbei, wo Gallego sein Bier trinkt. «Der da ist über den Zaun gekommen?», entfährt es dem Hauptmann, es ist eher eine Feststellung als eine Frage. Ich nicke. Und es ist klar, die Unterhaltung ist damit beendet.

Die Fahrt dem Zaun entlang

Am Tag davor war der Hauptmann gesprächiger, als er uns im Jeep der Guardia Civil durch Melilla fuhr, von ganz unten am Meer bis ganz hoch zum Zaun. Ein uralter Mercedes mit marokkanischen Nummernschildern blockiert den Kreisel. Gallego lehnt sich auf die Hupe. «Die haben das Gefühl, sie seien hier mit dem Eselskarren unterwegs», sagt er und grinst.

Gallego war 20 Jahre bei der Guardia Civil in San Sebastian, wo er gegen die Militanten der baskischen ETA kämpfte. «Es gibt Morddrohungen gegen mich», sagt er. Darum will er nicht, dass sein Gesicht fotografiert wird. Vor fünf Jahren wurde Gallego nach Melilla versetzt, an den südlichsten Rand Europas.

Wenn im spanischen Fernsehen der Wetterbericht kommt, sieht man Melilla nicht. Es liegt so weit unten auf der Karte, dass es von dem Balken verdeckt wird, über den die Börsenkurse flimmern. Was aber nicht weiter schlimm ist, meist scheint ohnehin die Sonne.



Melilla, 05.08.2014 Luftaufnahme der spanischen Enklave Melilla in Marokko. Photo by Pascal Mora

Luftaufnahme der spanischen Enklave Melilla in Marokko. (Foto: Pascal Mora) (Bild: Pascal Mora)

Melilla ist, zusammen mit dem weiter westlich gelegenen Ceuta, europäisches Territorium auf dem afrikanischen Kontinent. Ein Ort, wie ihn ein fieser Drehbuchautor nicht besser hätte erfinden können: die Landgrenze zwischen den Ärmsten und den Reichsten der Welt.

Deshalb der Zaun. Seit in den letzten zehn Jahren immer mehr junge Männer aus Ländern südlich der Sahara versuchen, über Melilla nach Europa zu gelangen, hat die EU entlang den zwölf Kilometern Grenze für Millionen aufgerüstet. Mittlerweile stehen da drei Zäune, der höchste sechs Meter hoch , bewehrt mit rasiermesserscharfem Nato-Stacheldraht.

Gallego war fünf Jahre lang Chef des Zauns. Jetzt, mit über 55, ist er seit Kurzem Reservist und kümmert sich um die Sorgen der Bevölkerung. Und um Journalisten. «Der Draht mit den Klingen ist gut sichtbar», sagt Gallego. «Wer da raufklettert, weiss, worauf er sich einlässt.»

Je näher er Europa kam, desto langsamer ging es vorwärts

Ibrahim, 28, aus Kamerun, wusste, worauf er sich einliess, als er in der Nacht vom 27. auf den 28. Mai am Zaun stand. Ibrahims sanfte Stimme bricht, als er uns von jener Nacht erzählt. «Es war mein dritter Versuch, aber so nahe an den Zaun hatte ich es zuvor nicht geschafft. Es war wie im Film. Wir waren Hunderte, und alle wollten dasselbe: einfach nur da rüber.»

Ein Jahr und acht Monate zuvor hatte seine Reise begonnen: «Es war der 29. September 2012, ein Samstag.» Ibrahim bestieg einen Zug in der Hauptstadt Yaoundé und fuhr nach Norden.

Fünf Monate später war er einer von Tausenden, die sich im Wald von Gourougou auf die letzte Etappe vorbereiteten: Der Zaun, nur wenige Kilometer von ihnen entfernt, war das letzte Hindernis auf seinem Weg. Doch je näher er Europa kam, desto langsamer ging es vorwärts.

Ein Jahr verging, Ibrahim versuchte es mehrmals von Tanger aus über das Wasser und ertrank dabei zweimal fast im Mittelmeer. Im Mai kehrte er zurück in den Wald.

Rund 60 Prozent sind derzeit Syrer und Maghrebiner die mit gekauften Papieren über den regulären Grenzübergang kommen – und dafür wohl auch die Beamten beidseits der Grenze schmieren. Das aber sehe man nicht, und davon spreche niemand, so Palazón. Der Zaun und die Anstürme hingegen erregten Aufmerksamkeit und Empörung. Damit liessen sich die Millionen aus Madrid und Brüssel rechtfertigen. «Der Zaun ist zum Selbstzweck geworden.»

Der Abschied vom Hauptmann

Hauptmann Gallego führt uns zurück in den Hof, wo eine Gruppe von Guardia-Civil-Beamten gerade eine neue Wärmebildkamera auf einen Kastenwagen montiert. «El honor, nuestra principal divisa» – Die Ehre ist unser oberstes Ideal, steht da eingemeisselt auf einem Steinblock neben dem Pförtnerhäuschen. Und über dem Eingang: «Todo por la patria», alles für das Vaterland.

Das alles, meint Gallego zum Abschied, sei ein grosses Drama, und es brauche eine grosse Lösung. «Es bringt nichts, wenn man dem Afrikaner einen Fisch schenkt», sagt er dann noch. «Man muss ihm das Fischen beibringen.» Aber das sei nicht sein Job. «Der Zaun ist der Zaun, und unsere Aufgabe ist der Schutz der Grenze.»

Niemand will hier Asyl

Oben, wo der Zaun sich von der Strasse löst, um sich um den Golfplatz von Melilla zu ziehen, liegt das Auffanglager. CETI nennen es die Spanier, Campo de Estancia Temporal de Inmigrantes. Für die rund 1400 Menschen, die hier leben, ist es schlicht das Campo. Das Lager.




Für die einen das «Campo», für die anderen das Migrationszenturms «CETI» in Melilla. (Foto: Pascal Mora)

Ibrahim ist seit zwei Monaten im Campo. «Das Leben hier besteht aus Essen und Schlafen. Ganz anders als im Wald oben. Dort konnten wir uns manchmal vier Wochen oder länger nicht waschen. Man konnte froh sein, wenn es einmal am Tag etwas zu essen gab. Seit ich im Campo bin, habe ich sechs Kilo zugenommen.» Doch das Lager ist nur ein Zwischenziel. Das erste Wort, das man hier lernt: «Salida», Abreise.

Wer hier ankommt, will weiter aufs Festland, wo es Arbeit gibt und man versuchen kann, sich weiter in den Norden durchzuschlagen. «Niemand beantragt in Melilla Asyl», sagt José Palazón. Gleich bei der Registrierung eröffne man den Migranten, dass das Verfahren in Melilla mindestens drei Jahre daure. «Drei Jahre in Melilla: Wer will das schon», sagt Palazón lachend.

Ein bürokratisches Paradox: Um nach Spanien zu kommen, müssen die Migranten ein Dokument unterschreiben, in dem sie sich bereit erklären, Spanien freiwillig zu verlassen. Es ist, als ob sie gleich im Voraus auf alle Rechte verzichten. Dann werden sie aufs Festland gebracht. Immer dienstags und mittwochs ist Salida. Dann hängen die Aufseher im Campo die Listen auf. «Wenn du deinen Namen am Brett siehst, kannst du packen. Um elf Uhr abends geht das Schiff nach Malaga», erklärt Ibrahim.




Das Migrationszenturms «CETI» in Melilla. (Foto: Pascal Mora) (Bild: Pascal Mora)

Die freiwillige Ausreise steht dann bei niemandem auf dem Programm. «Nach fünf Jahren in Spanien erhalten sie eine Aufenthaltsbewilligung», erklärt Palazn. «Bis dahin sind sie Freiwild.»

Ist wieder einmal ein Ausschaffungsflug nach Kamerun organisiert, sammelt die Polizei in den grossen Städten der iberischen Halbinsel Kameruner ein, bis der Flug voll ist. «Aber», so Palazón, «solange sie sich im Süden aufhalten, lässt man sie in Ruhe. Dort braucht man sie.»

«Wenn du deinen Namen am Brett siehst, kannst du packen. Um elf Uhr abends geht das Schiff nach Malaga», erklärt Ibrahim.

Die Polizei in Madrid habe auch schon ganze Busladungen afrikanischer Migranten direkt nach Almeria geschickt, wo sie vor den Treibhäusern abgeladen worden seien. Dort ernten sie für ein paar Euro am Tag Gurken und Tomaten. Ohne die billigen Arbeitskräfte hätte Spaniens Gemüseindustrie gegen die Konkurrenz aus Marokko keine Chance.



Melilla, 04.08.2014 XY, Migrant aus Kamerun, beim Autowaschen im Stadtzentrum von Melilla, Spanien. Mit dem Autowaschen verdienen sich die Migranten ein paar Euro am Tag. Photo by Pascal Mora

Migrant aus Kamerun beim Autowaschen. Als billige Arbeitskräfte sind sie willkommen, aber nicht als mehr. (Foto: Pascal Mora)

Die Nacht ist hereingebrochen über den Campo, der Zaun auf der anderen Seite der Strasse zieht sich im schmutzigen Licht der Strassenlaternen den Hügel hinauf.

Ibrahim bleiben noch fünf Minuten bis 23.30 Uhr, dann muss er drin sein. «Was immer ich tun kann, um etwas zu verdienen, werde ich tun», sagt er, als ich ihn zurück zum Tor begleite. «Ich habe meine Heimat verlassen, um etwas zu finden. Meine Familie und mein Dorf haben mich unterstützt und bezahlt. Jetzt ist es nicht an mir, zu wählen.»

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