Die Kommunistische Partei hat Maos Erbe endgültig abgeschüttelt. Vor dem 18. Kongress schwanken viele im Land zwischen Respekt und Sarkasmus für die politische Führung.
Wer die lange Reise der Volksrepublik China und ihrer Herrscher verstehen will, dem sei als Ausgangspunkt ein bescheidenes zweistöckiges Ziegelgebäude in Schanghais ehemaliger französischer Konzession empfohlen. Es liegt nur einen kurzen Fussweg entfernt vom neuen Flagship-Store des Luxusjuweliers Harry Winston mit seinen funkelnden Diamanten – er führt vorbei an überteuerten Bars und Türmen aus Glas.
1921 kamen 13 junge Chinesen in diesem damals gerade gebauten Wohnhaus zusammen, von dem aus der Blick auf einen Gemüseacker fiel. Vor 90 Jahren lag es noch am Rande der Stadt. Obwohl sie als Touristen getarnt waren und in einer nahegelegenen Mädchenschule logierten, stand Sightseeing nicht auf ihrem Programm. Unter strikter Geheimhaltung schrieben sie mithilfe zweier Gesandter der Kommunistischen Internationalen (Komintern) ein Programm für die soeben gegründete KP Chinas. Als die Polizei sie zu entdecken drohte, flohen die 13 nach Jiaxing, wo der erste Parteikongress sein Domizil an Bord eines Vergnügungsbootes auf dem Nan Hu-See gefunden hatte.
Am 8. November werden die Nachfahren dieser Männer in Peking zum 18. Parteitag zusammenkommen und die Macht an eine neue Generation politischer Führer weiterreichen, an deren Spitze der jetzige Vizepräsident Xi Jinping steht. Chinas KP mit ihren über 80 Millionen Mitgliedern ist heute der grösste und mächtigste politische Zusammenschluss der Welt. Die Partei regiert ein Fünftel der Weltbevölkerung und die zweitgrösste Volkswirtschaft.
Man wird auf dem Kongress versuchen, zur Normalität zurückzukehren. Ende September gipfelte eine turbulente Zeit in der Ankündigung, dem in Ungnade gefallenen Bo Xilai, Ex-Parteichef der Metropole Chongqing, werde der Prozess gemacht. Bo, der als Kandidat für einen Aufstieg in den Ständigen Ausschuss des Politbüros galt, werden Machtmissbrauch, Korruption und «ungebührliche sexuelle Beziehungen» vorgeworfen. Zudem soll er mitverantwortlich sein für den Mord, den seine Ehefrau an dem britischen Geschäftsmann Neil Heywood begangen haben soll.
«Es steht ein Parteitag bevor, deshalb dachten wir, es sei an der Zeit, etwas über die Parteigründung zu lernen», sagt Wang Yao, der gerade den Ort verlässt, an dem sich einst 13 Genossen trafen. «Als die erste Generation anfing, waren die Umstände äusserst schwierig, aber inzwischen geht es China immer besser.» Wang und seine Familie gehören zu den Gewinnern. Er arbeitet im Marketing, Sohn Tommy hat sein Studium in England abgeschlossen. «Die neue Regierung wird China mit neuer Geschwindigkeit führen – im Geist der Parteigründer», prophezeit Wang Yao.
Doch diese Kontinuität vermag nicht jeder zu erkennen. Die Partei habe sich weit von ihren Wurzeln entfernt, meint Jeremy Paltiel, Experte für die chinesische KP an der kanadischen Carleton-Universität. «Bis zum Tod Mao Zedongs im Jahr 1976 galt sie als eine Organisation von Revolutionären. Seither wurde sie zur Partei der Funktionäre und Beamten, eben eine Partei der Kader. Ebenso verhält es sich mit dem Parteitag. Die paar Arbeiter-Delegierten sind Dekoration.»
In den neun Jahrzehnten ihrer Existenz hat sich die KP als ausserordentlich anpassungsfähig erwiesen – und unnachgiebig in ihrem Streben nach Macht. Sie hat nach 1930 gewaltsame Unterdrückung durch die Japaner ebenso überstanden wie Säuberungen, Hungersnöte und politische Unruhen. Sie hat nicht zuletzt die Entfremdung von der Bevölkerung überlebt, als im Frühjahr 1989 der Protest auf dem Tiananmen-Platz blutig beendet wurde. Dies gelang, indem die einstige maoistische Kernideologie zugunsten eines «Sozialismus chinesischer Prägung» – einem Zwitter aus ungezügeltem Kapitalismus und harter Hand des Staates – entsorgt wurde. In den neunziger Jahren sind Lebenserwartung und Bildung enorm gestiegen. Beim Pisa-Ranking der OECD schnitten 2010 die Schulen von Schanghai als die besten weltweit ab. Frauenrechte sind keine Schimäre mehr, Hunderte Millionen Chinesen entkamen der Armut, so dass die Weltbank von einem Wunder spricht. Und das in einem Land, wo in den Wirren der Kulturrevolution 1965/66 nicht nur Hunderttausende verfolgt wurden, sondern die Versorgung in manchen Regionen zusammenbrach.
Den «glorreichen Weg» der KP Chinas zu rekonstruieren, wie das im Ziegelhaus von Schanghai geschieht, das heisst, einer Evolution der Partei und des Landes nachzuspüren. Die Mitarbeiter des Museums sagen, je näher der jetzige Parteitag rücke, desto mehr Besucher kämen – jeden Tag mindestens tausend. Am Souvenir-Shop stehen Bücher mit der offiziellen Parteigeschichte neben Mao-Uhren, dazu gibt es kitschige Rote-Armee-Handy-Anhänger und Federmappen mit dem Aufdruck: Studiere fleissig, verdiene gut!
Die Anfangsjahre des chinesischen Kommunismus waren wild bewegt. Von den 13 Gründungsmitgliedern sollten nur noch zwei der Partei angehören, als die 1949 an die Macht kam. Die anderen lebten nicht mehr, hatten die Partei verlassen oder sahen sich verstossen. Trotzdem zählte die KP 1927 bereits 58’000 Mitglieder. Nationalisten-Führer Chiang Kai-shek schien davon so beunruhigt, dass er die Kommunisten brutal unterdrücken liess, woraufhin viele ins Moskauer Exil auswichen. Der 7. Parteitag fand 1945 im Hauptquartier der kommunistischen Rebellen in Yan‘an, statt, kurz vor dem Ende der japanischen Besatzung und der Wiederaufnahme des Kriegs mit den Truppen Chiang Kai-sheks. Damals war Mao die absolute Autorität über die Partei nicht mehr zu nehmen.
Beim 1956 abgehaltenen 8. Kongress feierte die KP ihre Macht – über tausend Delegierte repräsentierten die zehn Millionen Mitglieder. Mao fühlte sich zum Anführer der Weltrevolution berufen, bald darauf begann der sogenannte Grosse Sprung nach vorn. Der desaströse Versuch, Wirtschaft und Gesellschaft über Nacht umzupflügen, führte zu Hungersnöten und zum Tod von Millionen und nahm dem Grossen Steuermann die Unantastbarkeit. Mao fürchtete um seine Position, deshalb wurde der 9. Parteitag erst 1969 abgehalten. Dabei stieg Lin Biao, der zwei Jahre später bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz sterben sollte, zum Stellvertreter des sakrosankten Vorsitzenden auf.
Senil und lethargisch
1977, ein Jahr nach Maos Tod, kehrten auf dem 11. Parteitag viele seiner Opfer zurück. Vor allem Deng Xiaoping, der mehr als jeder andere dazu beitragen sollte, China zur globalen Macht zu machen. Seither wirkt die Partei mehr denn je institutionalisiert. Vorbei die Zeit, in der ein Mann allein die Zügel in der Hand halten konnte.
Was wird vom anstehenden Parteitag erwartet? Drei Jahrzehnte ökonomischer Reformen ohne politischen Wandel haben zu Widersprüchen geführt und zu explosiven Konflikten. Das sich verlangsamende Wachstum tut ein Übriges. Die Bo-Xilai-Affäre hätte der Partei die Chance geboten, ein neues Kapitel aufzuschlagen, meint Gao Wenqian, Forscher am Chinesischen Institut für zentrale Dokumente und derzeit Berater der New Yorker Gruppe Human Rights China. Doch die sei vertan worden. «Vom Prozess gegen Wang Lijun bis zum Fall Bo lief alles geheim ab. Das hatte mit den politischen Kämpfen zu tun, die den jetzigen Machtwechsel flankieren. Die Kommunistische Partei ist 91 Jahre alt. Sie ist senil und lethargisch. Sie will einfach, das alles so bleibt, wie es ist.»
Andere setzen Hoffnung in die neue Führungsgeneration. Die Neuen seien «von ihrem beruflichen und politischen Hintergrund her weniger uniform», schrieb kürzlich der Analyst Cheng Li von der Brookings Institution. «Ihre Erfahrungen während der Kulturrevolution haben sie geprägt und anpassungsfähiger gemacht. Ihre Weltsicht ist kosmopolitischer, daher könnten sie zu einer politischen Institutionalisierung und demokratischen Führung dieses Landes beitragen.» Allerdings könne der zunehmende Pluralismus in der Gesellschaft und den politischen Eliten auch die Konsensbildung erschweren. «Innerhalb der Führung gibt es echte ideologische Dispute mit Positionen, die sich als unversöhnlich herausstellen könnten.»
Mao im Talar
Die Partei hat in den Augen vieler Chinesen für Stabilität und Wohlstand gesorgt. Dennoch quittieren sie die Äusserungen ihrer Führer oft mit Ironie oder Sarkasmus. Auch die Gründungsmythen. Als ein Besucher des Gründungsmuseums sagt, er sei gekommen, um etwas über Chinas Geschichte zu erfahren, wirft ein Freund spöttisch ein: «Ist das hier echte Geschichte?»
Aus den Anfangszeiten sind nur wenige Aufzeichnungen und Artefakte erhalten. Was natürlich auch damit zu tun hat, dass es 1921 äusserst gefährlich sein konnte, wenn bei jemandem revolutionäres Material gefunden wurde. Doch die Rekonstruktion des 1. Parteitags ist ohnehin mehr ein politisches als historisches Unterfangen.
In einem Raum zeigt ein Wachsfiguren-Arrangement Mao in fliessendem blauen Talar, wie er vor hingerissenen Delegierten eine Rede hält. Dabei war damals gar nicht Mao die überragende Persönlichkeit der Partei, sondern der frisch gewählte Generalsekretär Chen Duxiu. Samuel Liang, Professor an der Utah-Valley-Universität und als Gastforscher in Schanghai, beschreibt das Monument aus Wachs als «leere Hülle, die versucht, eine erfundene Vergangenheit zu verewigen, indem sie die tatsächliche Geschichte für nichtig erklärt.»
Dass der Geburtsort des chinesischen Kommunismus heute in Xintiandi liegt, einem der eleganteren Einkaufs- und Vergnügungsdistrikte Schanghais, ist merkwürdig stimmig. Oberflächlich betrachtet haben die Planer die traditionelle Bebauung erhalten. Ansonsten aber wurden die Häuser im Inneren komplett erneuert. Die Einwohner des Viertels mussten Boutiquen und Restaurants weichen. Die Partei und das Viertel haben noch die alte Hülle, doch fehlt der Geist, der sie einst beseelte. «Im Wandel dieser Gegend spiegelt sich die Geschichte der Partei von einem politisch-ideologisch geprägten Organismus zu einer heute von der Ökonomie gesteuerten Instanz», befindet Liang.
Als Hu Jiantao vor zehn Jahren die Macht übernahm, war das für viele mit der Hoffnung verbunden, er werde wirklich etwas verändern. «Die grösste Herausforderung für Nachfolger Xi Jinping besteht darin, dass er die Dinge angehen muss, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Partei es mit politischen und wirtschaftlichen Reformen ernst meint», ist der Pekinger Politikwissenschaftler Zhang Jian überzeugt. «Der Reformschwung ist abhanden gekommen, ihn wieder zu finden, erscheint dringlich.»
In der oberen Etage des Museums wird die Ära Hu nicht angezweifelt. Ihre Errungenschaften werden auf zwei grossen Wänden gepriesen. Und der jetzige Kongress? «Der hat doch noch nicht einmal angefangen», sagt eine Mitarbeiterin des Museums auf die Frage, wie dieser wohl dargestellt werden könnte. Mehrere Jahre werde das wohl dauern, schätzt sie.
Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hofman, freitag.de