Die Risiken des Ärztebooms tragen die Patienten

Gesundheitsminister Alain Berset zieht die Notbremse. Doch Santésuisse kritisiert den Zulassungsstopp im Chor mit den FMH-Ärzten.

Managed Care soll die Koordination der Ärzte fördern, ist aber umstritten (Bild: sda)

Gesundheitsminister Alain Berset zieht die Notbremse. Doch Santésuisse kritisiert den Zulassungsstopp im Chor mit den FMH-Ärzten.

Zu viele Praxen mit Spezialärzten in der gleichen (Stadt-)Region treiben nicht nur massiv die Kosten in die Höhe, sondern vor allem schaden sie Patientinnen und Patienten mehr als sie nützen. Wo es zu viele operierende Gynäkologen gibt, haben viel mehr Frauen keine Gebärmutter mehr. Wo es zu viele Herzspezialisten gibt, werden viel mehr Patientinnen und Patienten mit einem Herzkatheter diagnostiziert, bei viel mehr Patienten werden Stents und Herzschrittmacher platziert. Wo es zu viele Orthopäden gibt, werden zu früh künstliche Kniegelenke eingesetzt.

Keine wissenschaftliche Studie belegt, dass diese Überbehandlungen etwas nützen. Doch es sind alles Eingriffe, die auch misslingen und Schäden anrichten können. Diese Risiken tragen die Patientinnen und Patienten. Kommt dazu, dass jeder zusätzliche Spezialarzt die Kosten der Grundversicherung jedes Jahr um rund 500 Millionen Franken erhöht, wie der Bundesrat schätzt.

Boom von Spezialisten-Praxen dringend einschränken

Nun schlug SP-Bundesrat Alain Berset am Mittwoch vor, den Kantonen mit einem dringlichen Parlamentsbeschluss die Kompetenz zu geben, ab 1. April 2013 das Wachstum von Spezialarzt-Praxen zu begrenzen. Nicht betroffen davon sind Haus- und Kinderärzte, also die sogenannten Grundversorger. Eile ist insofern angesagt, als sich die meisten Spezialisten, die sich seit Anfang Jahr für eine Praxiseröffnung angemeldet haben, ausgerechnet in den Stadt-Agglomerationen von Zürich, Bern und Genf niederlassen wollen, wo die Dichte an Spezialärzte bereits enorm hoch ist. Besonders viele deutsche Ärzte möchten eine lukrative Praxis eröffnen.

Ärzte eröffnen dort ihre Praxis, wo sie gerne leben. Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern, ob es am gewünschten Ort bereits genügend Hautärzte, Herzspezialisten oder Gynäkologinnen gibt. Denn das schmälert ihr Einkommen kaum: Erstens sind die Kassen gezwungen, sämtliche Ärzte zu akzeptieren (Vertragszwang), und zweitens können Arztpraxen in der Schweiz ihr Einkommen zu einem schönen Teil selber bestimmen, indem sie ihre Patientinnen intensiver diagnostizieren, behandeln (auch als Belegärzte operieren!) und in ihre Praxis kommen lassen. Aus diesem Grunde können Ärzte in der Schweiz ihre Wartezimmer meistens füllen. Deshalb gibt es noch lange einen Ärztemangel, obwohl es im Verhältnis zu den Einwohnern in kaum einem Land so viele Spezialärzte gibt wie in der Schweiz.

FMH-Präsident reagiert negativ

In der Tagesschau vom Mittwoch liess sich FMH-Präsident Jacques de Haller über den von Bundesrat Berset vorgeschlagenen Zulassungsstopp nur negativ zitieren. Der Vorschlag des Bundesrats gehe zu weit. Es gäbe zum Beispiel zu wenig Frauenärzte und zu wenig Psychiater. Schon im Wahlkampf als SP-Nationalratskandidat im Kanton Bern hatte de Haller erklärt, dass er immer die Interessen der FMH-Ärzteschaft vertreten werde, falls diese anderer Meinung sei als die SP. Deshalb lässt er jetzt seinen Bundesrat im Stich.

Sogar die Krankenkassen liessen sich in der Tagesschau nur negativ aus. Direktor Christoph Meier sprach von «möglicher Willkür» und verlangte statt eines Zulassungstopps die Vertragsfreiheit für die Kassen. Die Vertragsfreiheit würde zwar einen geregelten Wettbewerb im Gesundheitswesen – wie in den Niederlanden – ermöglichen. Doch Meier muss wissen, dass sowohl Bundesrat als auch Parlament sogar eine Vertragsfreiheit nur gegenüber Spezialärzten explizit abgelehnt haben und eine solche in absehbarer Zeit keine Chance hat. Mit ihrer Forderung nach Vertragsfreiheit nimmt die Santésuisse deshalb in Kauf, dass der Boom von Spezialarztpraxen ungebremst anhält – zu Lasten der Prämienzahler und auf Kosten der Gesundheit vieler Patientinnen und Patienten.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Infosperber.

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