Die Rückkehr an den Ort des Undenkbaren

Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Eine Rückkehr an den Ort des Schreckens mit dem Überlebenden Leon Weintraub.

(Bild: Ljuba Naminova)

Vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Ein Besuch mit Leon Weintraub, der das Undenkbare überlebt hat.

August 1944 im jüdischen Ghetto «Litzmannstadt» in Lodz. Die Nazis deportieren jüdische Familien zu Hunderten in Konzentrationslager. Familie Weintraub weiss, dass die Soldaten bald auch zu ihnen kommen werden. Schnell rücken die Familienmitglieder den schweren Wohnzimmerschrank von der Wand und verstecken sich dahinter – zu acht. Die Mutter mit ihren fünf Kindern, die Tante und ihr Sohn. Der Tisch ist gedeckt, die Koffer ungepackt, die Tür des Hauses steht offen.

«Die werden schon abgeholt worden sein!», hören sie eine Stimme sagen. Und plötzlich: «Wenn wir hier jemanden finden, schiessen wir!» Die Mutter ruft in Panik: «Bloss nicht schiessen!» Sie, drei ihrer Töchter, ihre Schwester und ihr Sohn Leon kriechen hinter dem Schrank hervor. Die jüngste Schwester Rosa und der Cousin bleiben im Versteck. Die Nazis kontrollieren nicht weiter.

Am 27. Januar 2015 feierte Polen den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Dass der polnische Aussenminister Grzegorz Schetyna vor wenigen Tagen die Befreiung des Lagers durch die Sowjetunion in Zweifel zog, spielt für die Veranstalter des Gedenktages keine Rolle. Für Paweł Sawicki, den Medienprecher der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, steht ausser Frage, dass die Rote Armee Auschwitz befreite. «Das ist einfach eine historische Tatsache. Unter den Soldaten befanden sich aber natürlich auch Ukrainer, Weissrussen und andere.» Die Abwesenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei der Gedenkfeier, von dem es hiess, er habe keine Einladung erhalten, kommentiert Sawicki mit den Worten: «Unserem Museum liegt nicht die politische Debatte am Herzen, die im Rahmen der Feier geführt wird, sondern alleine die Überlebenden.»

Dr. Leon Weintraub ist einer von ihnen und offiziell ein «Kind des Holocaust». Gemeinsam mit knapp 300 Überlebenden besucht er am 27. Januar die Feierlichkeiten in Auschwitz auf Einladung des Maximilian-Kolbe-Werks e.V. Der 89-Jährige, der mit seiner zweiten Ehefrau Evamaria in Stockholm lebt, wurde im Alter von 17 Jahren nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Über seine Zeit im Lager spricht Weintraub nicht nur in ernstem Ton: «Dieses Mal bin ich freiwillig nach Auschwitz gekommen. Damals wurde ich gezwungen.» Über die vielen Touristen im ehemaligen Konzentrationslager sagt er: «Die Schlangen sind ja heute länger als damals!»

Nach zwei Nächten im Zug erreichen Leon Weintraub, seine Mutter, seine Schwestern und seine Tante das Lager Auschwitz-Birkenau. Er klammert sich an seinen Koffer. «Den wirst du dort nicht brauchen», sagt ihm ein Häftling. «Aber meine Briefmarken sind dort drin!» Der Häftling blafft ihn an: «Du bist nicht zum Leben hierhergekommen!»

Erst jetzt wirft Weintraub einen Blick auf das Gelände. Er sieht elektrische Stacheldrahtzäune. Im Ghetto war er Elektriker und versteht, dass das nichts Gutes bedeuten kann. «Das war der erste Schock. Ich bin zusammengeklappt wie eine Muschel. Ich fragte mich, wo ich hier gelandet bin. Und dann war da diese tiefe Enttäuschung, dass man uns belogen hatte, denn man hatte uns gesagt, dass wir zum Arbeiten hergekommen waren.»

Weintraub wird von seinen Verwandten getrennt. «Ich winkte meiner Mutter zum Abschied noch zu und sagte: ‹Wir sehen uns drinnen!›» Seine Mutter und Tante wird er nie wiedersehen. Beide werden kurz nach der Ankunft im Lager vergast.

«Ich winkte meiner Mutter zum Abschied noch zu und sagte: ‹Wir sehen uns drinnen!›»

Der 17-jährige Weintraub übersteht die Selektion. Er wird für arbeitstüchtig befunden und kommt in den Jugendblock des sogenannten «Zigeunerlagers». «Wir wurden geschoren, Haare gingen mit Hautfetzen ab. Dann wurden wir mit einer übelriechenden Flüssigkeit zur Desinfektion eingerieben. Das brannte fürchterlich an den wunden Stellen.»

Leon Weintraub erinnert sich nicht daran, im Lager auch nur ein einziges Mal über das Schicksal seiner Mutter, Schwestern und Tante nachgedacht zu haben. «Das Gehirn arbeitete nur noch in seinen elementaren Funktionen», sagt der 89-Jährige, während er durchs Lager geht.

Nach einigen Wochen im Lager begegnet er zufällig einem Schulkameraden. «Er kam auf mich zu und sah wohlgenährt aus. Er erzählte mir, dass der Blockälteste ihn bevorzuge und er ihn bitten könnte, auch mir zu helfen. Eine Hemisphäre meines Gehirns verstand aber, worum es ging. Ich wollte nicht im Bett des Blockältesten landen und so versuchte ich, dem Kameraden später aus dem Weg zu gehen.»

Sechs Wochen nach seiner Deportation nach Auschwitz beobachtet Leon Weintraub eine Gruppe nackter Häftlinge im Lager. «Sie sagten mir, dass sie auf ihren Abtransport warteten. Das war wie ein Signal für mich. Ich reagierte ohne Nachzudenken, zog schnell meine Kleider aus und reihte mich unter ihnen ein.»

Weintraub verlässt Auschwitz, doch der Terror nimmt kein Ende. Er wird in das Konzentrationslager Gross-Rosen deportiert. Später gelangt er in die Lager Flossenbürg und Natzweiler-Struthof. Dort muss er Zwangsarbeit verrichten, wird geschlagen, schikaniert, verhungert fast und erlebt Exekutionen von Mithäftlingen mit. Die Befreiung erlebt Leon Weintraub kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges durch französische Truppen in Donaueschingen.

Weintraub ist mit anderen Häftlingen unterwegs in einem Zug, die Nazis planen, ihn im Bodensee zu versenken. Er wird jedoch von einem Jagdbomber beschossen, viele Häftlinge können fliehen. «Wir liefen durch den Wald. Plötzlich kam uns ein hochgewachsener Soldat entgegen, der eine uns unbekannte Uniform trug. Wir zeigten auf die Buchstaben ‹KL› auf unserer Kleidung und auf unseren Haarschnitt. Wir hatten alle einen rasierten Streifen in der Mitte des Kopfes, der bei uns Läusepromenade hiess. Ich sehe es noch genau vor mir, wie der Soldat seinen Revolver in die Luft warf, ihn mit der Linken wieder auffing und uns fragte: ‹Comment ça va?›»

«Ich sehe es noch genau vor mir, wie der Soldat seinen Revolver in die Luft warf, ihn mit der Linken wieder auffing und uns fragte: ‹Comment ça va?›»

Nach der Befreiung – Weintraub wiegt nur noch 35 Kilogramm – erkrankt er an Typhus, erholt sich aber wieder. In Konstanz lernt er zufällig zwei Mädchen aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen kennen, die ihm mitteilen, dass drei seiner Schwestern am Leben sind. «Erst als ich meine Schwestern wiedertraf, begann ich langsam wieder ins Leben zurückzufinden und das Gefühl von Freiheit zu spüren.»

1946 nimmt er, trotz Schwierigkeiten aufgrund seiner geringen Schulbildung, das Medizinstudium in Göttingen auf. Er heiratet eine Deutsche, Katja, und wird dafür aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen. 1950 geht er als Gynäkologe mit seiner Familie zurück nach Polen, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Nach der Erfahrung im Lager stand für ihn die Berufswahl fest. «Ich wollte Menschenleben retten.»

Der alltägliche Antisemitismus

Zurück in Polen begegnet er im Alltag nicht selten Antisemitismus. An eine Szene erinnert er sich besonders gut:

In der Strassenbahn sagte eine Frau zu ihrem weinerlichen Kind: «Hör auf zu heulen, sonst holen dich die Juden für die Mazze!» Und spielte damit auf den antisemitischen Glauben an, dass Juden Kinderblut verwenden, um ihre Mazze für das jüdische Osterfest zu backen. Weintraub erwiderte: «Aber liebe Frau, Pessach ist doch erst in sechs Wochen, warum verschrecken Sie das Kind denn jetzt schon?»

Ende der 1960er-Jahre kulminierte in Polen der Hass gegen die Juden. Weintraub verliert im Zuge des steigenden Antisemitismus seine Anstellung als Gynäkologe und wandert mit seiner Familie ins neutrale Schweden aus, wo er noch heute lebt.

Drei Mal sei er in seinem Leben verstossen worden, sagt Weintraub: zuerst von den Nazis, später von seinen eigenen Leuten und zuletzt von den Polen. Trotzdem kann er sich «glücklich nennen, dass ich zu denen gehöre, die optimistisch sind. Für mich ist das Bewegende, die alles überschäumende Freude, am Leben zu bleiben. Das war das Schwergewicht: die Freude am Positiven und nicht das Nachtrauern, das Leiden.»

Weintraub kennt Überlebende, die ständig ihr eigenes Schicksal beklagen und sagt: «Diese Menschen sind auch nach der Befreiung noch Gefangene geblieben.»

Leon Weintraub fühlt sich nicht als Opfer. «Ich fühle mich als Sieger. Denn ich habe ja überlebt!» Weintraub kennt auch Überlebende, die ständig ihr eigenes Schicksal beklagten und nur negativ dächten. «Aber diese Menschen sind auch nach der Befreiung mental noch Gefangene geblieben.»

Das berühmte «Todestor» im Lager Auschwitz-Birkenau, durch das die Häftlinge 1940 bis 1945 ins Lager getrieben wurden, war am 27. Januar von einem gigantischen weissen Festzelt verhüllt. Die rund 3000 geladenen Gäste betreten, wie einst die Häftlinge, das Zelt durch das «Todestor». «Das symbolisiert den Übergang von Leben zu Tod », erklärt Mediensprecher Paweł Sawicki. Zur Feier des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz im Jahr 2025 werden seiner Ansicht nach keine Überlebenden mehr präsent sein. Doch Leon Weintraub, der immer Anzug trägt und seine Fliege mehrmals am Tag wechselt, widerspricht ihm und sagt lachend: «Ich werde da sein!»

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