Ägypten hält erstmals freie Präsidentschaftswahlen ab. Es zählen nicht Programme sondern Personen und vor allem die Frage, Ehemaliger oder Vertreter der Revolution.
«Er hat mit Abstand am meisten Erfahrung. Das zählt jetzt», sagt Hassan über Amr Moussa. Der 57-jährige Erzieher ist einer von einigen Hundert, meist männlichen Besuchern einer Wahlveranstaltung in Khanka. Viele Stühle sind leer geblieben. Khanka liegt an der nördlichen Peripherie der wuchernden 20-Millionen-Metropole Kairo, dort wie die Stadt langsam ins flache Land übergeht. Ein gesichtsloser Stadtteil, wie so viele, wo Menschen leben, die so einigermassen über die Runden kommen. Viele arbeiten in den nahe gelegenen Industriebetrieben. «Vom neuen Präsidenten erwarten sie Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung», zählt Hassan die Prioritäten auf.
Ein Hauch von Revolution
Alle Spitzenreiter der Präsidentschaftswahlen vom 23./24. Mai kamen in den letzten Wochen nach Khanka. Am Interesse der Bevölkerung liess sich nicht ablesen, wer gewinnen wird. Bei den Parlamentswahlen im letzten Herbst haben die Muslimbrüder am besten abgeschnitten. «Aber die Macht soll verteilt werden», nennt Hassan einen weiteren Grund für seine Präferenz. Der 76-jährige Moussa war zehn Jahre Aussenminister und dann 10 Jahre Generalsekretär der Arabischen Liga. Er gibt sich gerne staatsmännisch, findet aber auch bei einfachen Leuten den Ton. Das Plakat für seinen Auftritt hat er sorgsam gewählt. Es zeigt eine Kairoer Skyline mit Minaretten und Kirchtürmen. In Khanka leben auch koptische Christen. Die Stimmung an diesem Abend ist eher steif und erinnert ein wenig an die orchestrierten Auftritte von staatlichen Würdenträgern unter Mubarak.
Ein Hauch von Revolution und eine Atmosphäre wie an einem Volksfest herrscht dagegen beim Auftritt von Abdul Moneim Abul Fotouh, einem moderaten Islamisten, im Gezira-Jugendclub in Kairo. Tausende haben das Sportfeld in ein oranges Meer von Fahnen verwandelt. Die meisten sind jung. Als der Kandidat sich auf der Bühne zeigt, tobt die Menge im Schein eines Feuerwerkes und ruft «das Volk will Abul Fotouh als Präsident». Der 61-jährige Arzt und Gewerkschafter hat an diesem Abend drei Dutzend Prominente um sich geschart, die das ganze Spektrum der Gesellschaft von Liberalen bis zu erzkonservativen Salafisten vertreten.
«Die Revolution muss weitergehen, die Revolution darf nicht sterben», begründet Wael Ghoneim, einer der Helden des Tahrir-Platzes, seine Untersützung für Abul Fotouh. Dessen Wahlkampf erinnert ein bisschen an Obama. 96 000 Freiwillige engagieren sich, auch Mustafa ein Logistik-Student. Er hätte allerdings wie viele hier Mohammed el-Baradei vorgezogen, der sich im Januar aus dem Rennen zurückgezogen hatte.
Historische Zäsur
15 Monate nach dem Sturz Mubaraks sind die ersten freien Präsidentschaftswahlen ein entscheidender Schritt für den Aufbau eines demokratischen Systems. Die regierenden Generäle haben versprochen, sich nach der Vereidigung eines neuen Staatsoberhauptes in die Kaserenen zurückzuziehen und die Macht wieder an zivile Organe abzugeben. Noch elf Bewerber sind aktiv im Rennen. Zum ersten Mal gibt es eine echte Auswahl. Meinungsumfragen sind allerdings mit äusserster Vorsicht zu geniessen, die politischen Loyalitäten noch nicht ausgeprägt. Wenige Tage vor dem Urnengang sind viele Ägypter und Ägypterinnen noch unentschlossen. «Das wichtigste ist, dass meine Stimme diesmal zählt», sagt ein Geschäftsmann in Kairo, der nur weiss, dass er keinen Ehemaligen wählen wird.
Vier Kandidaten haben sich vom Feld abgesetzt, neben Moussa und Abul Fotouh, Mohammed Morsi von den Muslimbrüdern und Ahmed Shafiq, der letzte von Mubarak ernannte Regierungschef und das Aushängeschild der «Feloul», der Ehemaligen. Die Linke ist zersplittert. Einzig dem Nasseristen Hamdin Sabahi wird ein Achtungserfolg zugetraut. Umstritten sind inbesondere Morsi und Shafiq. Nach schlechten Umfrageergebnissen haben die Muslimbrüder in den letzten Tagen einen sehr aggressiven Wahlkampf geführt, ihren ganzen Apparat aufgeboten und bereits das Gespenst der Wahlfälschung heraufbeschworen.
Angst vor neuer Gewalt
Shafiq als ehemaliger Luftwaffenchef hat eine Plattform, die ganz auf Recht und Ordnung baut. Er findet vor allem bei der schweigenden Mehrheit Gehör und konnte in den letzten Umfragen massiv zulegen, obwohl seine Kandidatur unter Vorbehalt steht. Es laufen mehrere Prozesse gegen ihn wegen Amtsmissbrauch. Seine Wahl wäre für alle jene, die einen radiaklen Bruch mit der Vergangenheit wollen, eine Provokation und ein Anlass um eine zweite Revolution auszulösen. Viele Ägypter haben auch Angst, dass Shafiq auf Schlägertruppen des alten Regimes zurückgreifen könnte, um das Resultat zu beeinflussen.
Über die Details der Programme machen sich die Wähler ohnhin nicht viele Gedanken. Sicherheit und die Ankurbelung der Wirtschaft versprechen alle Bewerber. Gewählt wird die Persönlichkeit und entschieden wird nach Kriterien wie Islamist oder Säkularist sowie Vertreter der Revolution oder Exponent des alten Regimes.