Die Rückkehr des Albtraums

Mittelitalien wird innerhalb von zwei Monaten von einem zweiten schweren Erdbeben heimgesucht. Der Schock sitzt tief.

People walk among the dust after a wall fell in the small town of Visso in central Italy, Thursday, Oct 27, 2016, after a 5.9 earthquake destroyed part of the town. Authorities began early Thursday to assess the damage caused by a pair of strong quakes in the same region of central Italy hit by the deadly August temblor, as local officials appealed for temporary housing adequate for the cold mountain temperatures with winter’s approach. (AP Photo/Alessandra Tarantino)

(Bild: Keystone/Alessandra Tarantino)

Mittelitalien wird innerhalb von zwei Monaten von einem zweiten schweren Erdbeben heimgesucht. Der Schock sitzt tief.

Wer schon länger in der italienischen Hauptstadt lebt, der weiss, wie sich Erdbeben anfühlen. Als 2009 die Erde in L’Aquila in den Abruzzen bebte, konnte man im etwa 100 Kilometer entfernten Rom meinen, eine U-Bahn donnerte durch die eigene Behausung.

Einen ähnlichen Eindruck hatten die Römer vor zwei Monaten, als in Mittelitalien die Erde bebte und fast 300 Todesopfer forderte. Bei den jüngsten Erdstössen vom Mittwochabend fühlte es sich in oberen Stockwerken in der Hauptstadt an, als befinde man sich auf einem Schiff auf hoher See, so stark wankten die Gemäuer.

Und sofort war wieder klar: Nicht besonders weit von der Hauptstadt entfernt hatte das Erdbeben weit schwerere Folgen. Diesmal versetzten die Erdstösse vor allem die Bevölkerung in Mittelitalien zwischen Perugia und Macerata in Panik. Nur etwa 40 Kilometer vom Epizentrum des Erdbebens vom 24. August um Amatrice und Accumoli entfernt, waren nun zahlreiche Dörfer in der Region Marken an der Grenze zu Umbrien betroffen.

Viele verliessen rechtzeitig ihr Haus 

Vor allem ein zweiter, schwerer Erdstoss am Mittwochabend mit einer Stärke von 6,1 auf der Richterskala in der Umgebung des Dorfs Ussita richtete schwere Schäden an. Dass die Zahl der Opfer und Verletzten bislang gering ausfiel, ist wohl vor allem dem Umstand zu verdanken, dass bereits bei einem ersten Erdstoss um 19.11 Uhr mit Stärke 5,4 viele Menschen ihre Häuser verliessen und ins Freie liefen.

In Tolentino starb ein 73-jähriger Mann an einem Herzinfarkt infolge des Erdbebens. Nach offiziellen Angaben gab es bislang vier Verletzte, ein Kind in der Kleinstadt Camerino wurde schwer verletzt. Der italienische Zivilschutz berichtete von mindestens 3000 Menschen, die ihre Behausung verloren hätten. Die italienische Regierung versprach am Donnerstag 40 Millionen Euro Soforthilfe.

Auch im etwa 150 Kilometer entfernten Rom waren nach den Erdstössen am Abend viele Menschen auf die Strasse gelaufen. Mehrere Gebäude, darunter auch das italienische Aussenministerium wurden vorsorglich evakuiert. Nicht nur in Neapel oder Florenz, sogar bis nach Südtirol und Österreich waren die Ausläufer des Erdbebens zu spüren. Auch am Donnerstagmorgen wurden noch mehrere schwerere Erdstösse gemessen.

Tiefer Schock 

Dass sich die Italiener angesichts der Häufigkeit an Erdbeben gewöhnt hätten, kann man allerdings nicht behaupten. «Das unendliche Erdbeben», titelte die Tageszeitung «La Repubblica» am Donnerstag. Der «Corriere della Sera» schrieb von der «Rückkehr des Albtraums».

«Wir waren gerade dabei, uns vom Erdbeben Ende August zu erholen und jetzt das!», sagte ein Betroffener. In Dörfern wie Ussita seien 80 Prozent der Gebäude nicht mehr begehbar, hiess es. «Es hat keinen Sinn mehr, hier zu bleiben», sagte der Bürgermeister des stark zerstörten Dorfes Castelsantangelo sul Nera.



Zahlreiche Kirchen wurden beschädigt oder zerstört. So wie hier die von Santa Maria Assunta aus dem frühen 14. Jahrhundert in Ussita.

Zahlreiche Kirchen wurden beschädigt oder zerstört. So wie hier die von Santa Maria Assunta aus dem frühen 14. Jahrhundert in Ussita. (Bild: Keystone/Sandro Perozzi)

Sergio Pirozzi, Bürgermeister der Gemeinde Amatrice, in der beim Beben vom 24. August die meisten Menschen ums Leben kamen, sagte: «Wir haben seit 64 Tagen versucht unsere traumatischen Erfahrungen beiseite zu schieben, jetzt ist die Angst wieder da.» Auch in der gesperrten Zone von Amatrice stürzten am Mittwoch mehrere Gebäude ein.

Die Bilder, die am Morgen nach der Katastrophe zu sehen waren, glichen erneut einer Apokalypse. Das italienische Fernsehen zeigte eingestürzte Dächer und Mauern, Gesteinsmassen, die Autos unter sich begraben hatten, überdimensionale Löcher in zerstörten Fassasen.

In Camerino stürzte ein alter Kirchturm auf ein Wohnhaus, viele ältere Gebäude im näheren Umkreis wurden beschädigt. Nach Angaben des Zivilschutzes der Region Marken seien infolge des Bebens wesentlich mehr zerstörte Gebäude zu befürchten als nach dem Erdbeben Ende August, als eine weniger besiedelte Gegend und deshalb insgesamt auch weniger Gemeinden betroffen waren.

18’000 Beben seit Ende April 

Für Geologen ist es ein bekanntes Phänomen, dass sich auch einige Zeit nach schweren Erdstössen in der Nähe erneut ähnliche Phänomene ereignen. Bei dem schweren Erdbeben im Friaul 1976 war dies der Fall, ebenso beim Erdbeben in den Marken 1997 oder in der Emilia Romagna 2012.

Die 1500 Kilometer lange und von Norden nach Süden führende Bergkette des Apennin stellt dabei die am meisten von Erdbeben gefährdete Zone in Italien dar. «Der Apennin bewegt sich ständig, die meisten Erdstösse werden von der Bevölkerung gar nicht bemerkt», sagte Daniela Pantosti, Geologin am Italienischen Institut für Geophysik und Vulkanologie.

» Mehr dazu bei «dw Wissenschaft»: Risikozone Italien

Seit dem Beben vom 24. April seien 18’000 Erdstösse gemessen worden. Die Verbindung des damaligen Erdbebens mit dem jetzigen sei evident, möglicherweise handelte es sich sogar um dieselbe Verwerfung, sagten Geologen.

Geologisch sind die Beben zu erklären mit der Bewegung der Apenninen-Platte, die sich bis zu drei Millimeter im Jahr gegen den Uhrzeigersinn dreht und Druck auf die Po-Ebene ausübt. In Italien treffen Eurasische und Afrikanische Kontinentalplatte aufeinander, deren Kontakt liegt den Erdbeben zugrunde. Alle am Apennin gelegenen Regionen gelten deshalb als besonders gefährdet.

Gunst der Stunde für Häftlinge

Wie am Donnerstag bekannt wurde, gab es auch Nutzniesser der Naturkatastrophe. Von den 39 Gefangenen, die in der Nacht wegen des Erdbebens aus dem Gefängnis in Camerino in die römische Haftanstalt Rebibbia verlegt wurden, konnten drei entkommen. Am Donnerstagmorgen seilten sich die Häftlinge, darunter ein wegen Mordes zu lebenslanger Haft Verurteilter, mithilfe von Bettlaken ab und flüchteten.

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