Die Schlacht auf den Strassen

Die Autofahrer – rücksichtslos. Die Velofahrer: noch schlimmer. Auf den Schweizer Strassen scheint ein wüster Kampf im Gange zu sein. Wer wird überleben, wer untergehen?

Alle gegen alle. (Bild: Nils Fisch)

Die Autofahrer – rücksichtslos. Die Velofahrer: noch schlimmer. Auf den Schweizer Strassen scheint ein wüster Kampf im Gange zu sein. Wer wird überleben, wer untergehen?

Schrecklich, wie es auf den Schweizer Strassen offenbar zugeht. Da tobt ein Kampf um jeden Meter, wie man dank dem «Blick» erfährt, der wie immer dabei ist, wenn Blut zu fliessen droht. «Velo- und Autofahrer kommen sich permanent in die Quere, sie zeigen sich den Vogel, bremsen sich aus und ballen die Fäuste», stellt das Blatt nach einem Augenschein an einem ganz gewöhnlichen Dienstagmorgen in Zürich fest: «So aggressiv verteidigen die Automobilisten und Velofahrer also ihr Revier.»

Selbstverständlich fordert auch dieser Kampf um die Vorherrschaft auf der Strasse seine Opfer. Direktbetroffene – wie der Zürcher Velokurier Dani Eberhard, der «schon oft» angefahren worden ist, wie der «Blick» berichtet. Und – nur allzu oft vergessen – die indirekt Betroffenen. Es sind dies zum Beispiel die Inhaber der Luxusboutiquen an der oberen Freien Strasse, die sich vor Kurzem in der «Basler Zeitung» darüber auslassen durften, dass die Velofahrer «alle Rechte der Welt» hätten, während die Autofahrer von den Behörden systematisch diskriminiert würden, mit dem neuen Verkehrsregime noch mehr als mit dem alten. Logische Folge: Die gutbetuchten Kunden würden nicht mehr in Basel einkaufen, sondern in Mailand, London oder New York, wo sie – anders als in Basel – bequem mit dem Auto vor die feinen Läden fahren könnten. Ein Skandal!

Warum diese Aufregung rund um die Strassen? Warum diese Aggressionen? Wer wird diesen Strassenkampf überleben, wer untergehen? Welche Chancen haben die einzelnen Verkehrsmittel? Hier der Versuch einer Einschätzung.

Das Töffli – ein Mythos ist am Ende

Am schlimmsten steht es wohl ums gute alte Töffli. Ausgerechnet – den einstigen Mythos. Wie war das aufregend, früher. Endlich 14, endlich (legal) aufs Töffli! Die Ausflüge mit den Kollegen, die Ferien, alles mit dem Töffli. Und wie einfach alles noch war damals. Die Ciao-Fahrer, das waren die Mädchen beiderlei Geschlechts und die Popper, für die das Töffli nicht viel mehr war als die Fortsetzung der Gel-Frisur mit anderen Mitteln.

Die Maxi- und Sachs-Fahrer dagegen, das waren die wirklichen Typen, Töfflibuebe eben, die alles dafür taten, dass ihr Teil noch ein bisschen schöner und noch ein bisschen schneller wurde. Kolbenfenster rein, Plomben raus, stundenlang fummelten sie rum, aus purer Liebe zu ihrer Maschine (und vielleicht auch ein bisschen, weil sie nicht so einfach an die Mädchen rankamen, die aus unerklärlichen Gründen eher auf die Ciao-Gecken standen). So lebten auch die nicht mehr ganz so jungen Töfflibuebe glücklich und zufrieden bis in die 1980er-Jahre. Dann kam die Helmpflicht. Das damals noch wunderbar lange Haar nur wegen ein bisschen mehr Sicherheit zu verhüllen – schon das kam für viele nicht in Frage.

Dann kam es sogar noch schlimmer, mit der Angst vor dem Waldsterben, dem Öko- und Veloboom. Später, als man merkte, dass die Bäume immer noch stehen, setzten sich die Jugendlichen und nicht mehr ganz so Jungen zwar wieder vermehrt auf ein motorisiertes Zweirad – aber nicht mehr aufs Töffli, sondern auf die Roller. Sehr zum Bedauern von ewigen Töfflibuebe wie dem Allschwiler Beat Lautenschlager. «Gerade in der Stadt ist das Töffli noch immer das perfekte Fortbewegungsmittel – schnell, wendig, günstig und qualitativ hochstehend. Der typische Roller dagegen: billig und charakterlos», sagt er.

Darum kämpfte er fürs Töffli, gründete mit anderen «Buebe» eine Gang, so wie früher. Und wo immer sie seither auch auf Zeltplätzen auftauchen – die Begeisterung ist gross. Der Mythos lebte wieder auf. Lautenschlager spricht von einer «Nostalgiewelle». Ein Occasion-Töffli gehe heute schneller weg, als es ihn mit Kolbenfenster, grös­serem Vergaser und allem Schnickschnack nachts auf leerer Strasse von Allschwil in die Stadt bringen würde.

Roller dominiert

Noch wäre es aber verfrüht, das Mofa von der Liste der bedrohten Arten zu streichen. Dafür sind die Zahlen weiterhin zu schlecht: Neue Töffli werden in der Schweiz kaum mehr verkauft, während der Bestand an Rollern von Jahr zu Jahr wächst – auf bisher 270 000 Stück. Ihnen gehört die Gegenwart – und wohl auch die Zukunft, vor allem in den Städten und Agglomerationen.

Dabei gibt es durchaus gute Gründe für Lautenschlagers Abneigung: Der Roller ist die Antithese zum Töffli (und auch zum Töff). Etwas für den Pragmatiker, kein Hobby, keine Leidenschaft und schon gar keine Lebensphilosophie. Er ist ganz einfach ein Fortbewegungsmittel. Günstig in der Anschaffung, sparsam im Verbrauch, einfach in der Bedienung und anspruchslos auch vom Platzbedarf her.

Das Auto – auch kein Mythos mehr

Ganz anders das Auto – gross und gefrässig und wohl gerade deswegen lange so begehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es als das Prestige­objekt schlechthin. Man wollte ein Auto, eine Frau, einen Job, ein Haus, Kinder, in dieser Reihenfolge. Die Karosse war der Ort für die ganz grossen Momente im Leben und die extremen Momente zwischen Leben und Tod. Wie die «NZZ am Sonntag» (online leider nicht verfügbar) kürzlich schrieb, machte zeitweise fast die Hälfte aller Amerikaner ihren Heiratsantrag im Auto. Der feine Rebell James Dean kam bei einem Unfall mit seinem Porsche 550 Spyder um – und wurde zur Legende, unsterblich, genau gleich wie der Playboy Porfirio Rubirosa Ariza, der in einem Ferrari 250 GT in die Ewigkeit raste.

Heute geht es nicht mehr um Geschwindigkeit, sondern um Sicherheit und Komfort. Eine der meistdiskutierten Entwicklungen ist das automatische Einparksystem. Ist das aufregend? Begehrenswert gar?

Na ja. Parkschäden können auf diese Weise möglicherweise noch verhindert werden, dafür wird der Mythos noch weiter beschädigt – falls der nicht ohnehin schon kaputt ist. Laut «NZZ am Sonntag» zeichnet sich in einer ganzen Reihe von Industrieländern bereits seit Längerem eine Trendumkehr ab: Die pro Person zurückgelegten Kilometer stagnierten zuletzt selbst in den USA, dem wohl autoverrücktesten Land der Welt. Auch in der Schweiz steigen sie nur noch minim.

Die Erklärung ist einfach: die Menschen leben wieder gerne in der Stadt, wo die Wege kurz sind und das ÖV-Netz eng ist. Ein Auto braucht man dort nicht unbedingt, nicht einmal aus Imagegründen. In den sich betont urban gebenden Kreisen versprechen Single-Speed-Fahrräder und E-Bikes mindestens so viel Prestige wie schicke Autos (von denen sowieso jeder annimmt, dass sie nur geleast sind).

Die E-Bikes nerven – und doch muss man ihnen dankbar sein

Die E-Bikes – ein heikles Thema. Darüber diskutiert wird meistens eher ausweichend. Und ausschweifend, indem zum Beispiel die Frage erörtert wird, ob seine Ökobilanz noch vertretbar sei, wenn man in der ganzen Rechnung auch die problematischen Umstände bei der Produktion und Entsorgung der Batterien berücksichtige. Da werden Studien zitiert und widersprüchliche Zahlen gegengerechnet, bis die Verwirrung perfekt ist. Dabei könnte man ja auch einfach kurz und knapp die schmerzhafte Wahrheit sagen: Elektro-Bikes nerven. Noch mehr nerven höchstens noch die E-Bike-Fahrer, die das gewöhnliche Radvolk auf der Strecke nur so stehen lassen, egal wie dick ihre Bäuche und wie dünn ihre Müskelchen sind. Was für ein Bschiss! Aber wahrscheinlich ist das den E-Bike-Fahrern egal, weil sie schon längst wieder weg sind, wenn die Wut bei den abgehängten Velofahrern am grössten ist.

Eigentlich ist es ja nichts Neues, dass die Velofahrer arme Kerle sind. Früher strampelten sich vor allem jene Schweizer auf dem Fahrrad ab, die sich kein Auto leisten konnten. Das änderte sich zwar mit dem Boom in den 1980er- und 1990er-Jahren. Seither gelten die Velofahrer nicht mehr als Versager, dafür aber als Rowdies.

Wenn zum Beispiel der «Blick» über den pensionierten Mathematiklehrer Ralf Latina berichtet, der in Genf mit einer Pfefferpistole Jagd auf «rücksichtslose Velofahrer» macht, gibt es eine ganze Reihe von begeisterten Leserbriefen. Endlich unternimmt mal einer etwas gegen diese Verkehrsrüpel! Dabei zeigen Unfallstatistiken von Knotenpunkten, dass die Velofahrer in der Regel nicht die Schuldigen seien, sondern die Opfer, wie Daniel Matti, Projektleiter Mobilität bei Interface Politikstudien Forschung Beratung in Luzern, sagt.

Unter diesen Umständen muss man schon fast froh sein um die E-Bikes, die in den vergangenen Jahren einen neuen Veloboom in den Städten und Agglomerationen ausgelöst haben. Ein Ende ist nicht abzusehen, die Verkaufszahlen steigen weiter von Jahr zu Jahr (auf 52 000 im Jahr 2012), und dieser Schub gibt den Velofahrern ganz generell eine neue Kraft, wie Matti sagt: «Sie werden selbstbewusster und beanspruchen mehr Platz in den Städten.»

Die Fussgänger – noch so eine dubiose Gruppe

Dann gibt es auch noch eine sehr viel heterogenere Gruppe in diesem ganzen Revierkampf: die Fussgänger. Eigentlich gehören alle dazu, und doch sehen sich die meisten als etwas anderes, als ÖV-Nutzer, Velo- oder eben Autofahrer.

Möglicherweise ist das ein Grund, warum Ladenbesitzer lieber nicht auf diese Gruppe setzen, warum sie sich häufig gegen Fussgängerzonen wehren. Dabei wäre dieser Widerstand gar nicht nötig, wenn stimmt, was Verkehrsexperte Matti sagt: «Erfahrungen zeigen, dass Fuss-, Velo- und ÖV-Kunden in autofreien Zonen zwar weniger aufs Mal einkaufen, dafür häufiger kommen.» Auch dank dem angenehmen Umfeld, ohne Verkehr. Unter dem Strich würde sich die Rechnung für die Ladenbesitzer und Wirte lohnen, sagt Matti.

Die Richtung in der Verkehrspolitik stimmt

Dabei ist er überzeugt, dass sich solche Überlegungen in der politischen Debatte heute sehr viel besser durchspielen lassen als noch vor ein paar Jahren. Eben weil die Verkehrsmittel nicht mehr so mythisch überhöht werden und dafür gezielter eingesetzt werden. Der moderne Mensch nimmt mal das Auto, mal den ÖV und fährt auch mal Velo oder geht zu Fuss, je nach Bedarf. Das macht es auch zunehmend schwierig, die Verkehrsteilnehmer in Opfer und Täter einzuteilen. Gute Autofahrer, böse Velofahrer, das funktioniert je länger, desto weniger. «Dieser Kampf findet vor allem in den Medien statt. Dort wird einiges aufgebauscht», sagt Matti.

Einen Konflikt sieht allerdings auch er: «Der Platz ist knapp geworden.» In Basel-Stadt zum Beispiel beansprucht der Verkehr einen Viertel des gesamten Gebietes, noch mehr wird er kaum erhalten, trotz der steigenden Mobilität. «Logisch, gibt es einen Verteilkampf», sagt Matti.

Aber diesen Konflikt könne man lösen, nicht mit Fäusten, sondern mit einer sinnvollen Planung, die den platzsparenden und emissionsarmen Ver­kehrsmitteln zugute kommt. Insofern wäre Basel mit seinem neuen Verkehrsregime auf keinem schlechten Weg, trotz allen Wirrungen.

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Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 06.09.13

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