Bevor ihr epochaler Schauerroman «Frankenstein» erschien, veröffentlichte Mary Shelley ein Büchlein über ihre erste Schweizerreise.
Am Abend des 28. Juli 1814 stachen Mary Godwin, ihre Stiefschwester Claire Clairmont und der Dichter Percy Bysshe Shelley von Dover mit einem kleinen Schiff in See. Von Frankreich aus wollten die drei jungen Leute weiter in die Schweiz mit ihren Seen und Bergen.
Es war allerdings nicht nur Reiselust, die sie in die Ferne schweifen liess. Mary Godwin und der verheiratete Shelley hatten sich kurz zuvor heftig ineinander verliebt. Marys Vater, der Sozialphilosoph William Godwin, war darüber alles andere als erbaut und verlangte, dass die beiden ihre Liebesbeziehung beendeten.
Die Fahrt über den Kanal verlief stürmisch. Die Natur bot ein eindrückliches Schauspiel mit Blitz und Donnergrollen am nächtlichen Himmel. Die drei waren froh, als ihr Boot endlich im Hafen von Calais war und sie wieder festen Boden unter den Füssen hatten. Mit Pferd und Wagen ging es weiter nach Paris.
Französische Nachkriegszeit
In der Sommerhitze der französischen Hauptstadt hielten es die drei kaum aus. Nach einer Woche beschlossen sie, über Troyes und Besançon in die Schweiz zu wandern. Ein Plan, den Mary Godwin in ihrer Schilderung der Reise («History of a six weeks‘ tour» online lesen) selbst als «eccentric enough» bezeichnete.
Ihre Pariser Wirtin versuchte, ihnen das Vorhaben auszureden: Eine grosse Armee sei eben aufgelöst worden, Soldaten und Offiziere zögen beschäftigungslos durchs Land und die zwei Damen würden sicherlich entführt werden.
Zwar verlief nicht alles ganz nach Plan – Shelley vertrat sich den Fuss und konnte zeitweise kaum gehen, sodass er auf ein Gefärt angewiesen war –, aber überfallen oder gar entführt wurden sie nicht.
Allerdings kamen sie auch durch Dörfer, in denen Kosaken nach dem Sieg über Napoleon Häuser angezündet und das Vieh getötet hatten.
Zwei Mentalitäten
Die Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz nahm Mary Godwin vor allem als eine zwischen zwei unterschiedlichen Lebenswelten oder Mentalitäten wahr. In ihren Aufzeichnungen schrieb sie: «Die Schweizer Bauernhäuser sind viel sauberer und ordentlicher; denselben Unterschied stellt man auch bei den Bewohnern fest. Die Schweizer Frauen tragen häufig weisse Leinenstoffe, und ihre ganze Kleidung ist immer vollkommen sauber. Diese grössere Sauberkeit ist hauptsächlich ein Resultat der unterschiedlichen Konfession: Reisende in Deutschland bemerken den gleichen Unterschied zwischen reformierten und katholischen Städten, auch wenn sie nur wenige Meilen auseinanderliegen.»
Schneebedeckte Alpengipfel
Kurz vor Neuenburg erblickten die drei Reisenden in der Ferne die Alpen mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Am 23. August war Luzern erreicht. Die Landschaft faszinierte sie. Am Vierwaldstättersee mit seinen Bergen hätten die drei länger verweilen mögen.
Doch die zwei Zimmer, die sie in Brunnen in einem «ugly big house, called the Chateau», gemietet hatten, waren bar jeden Komforts. Und was entscheidender war: Die schwindenden Finanzen rieten zur sofortigen Heimreise.
So ging es denn mit dem Schiff von Luzern auf der Reuss und der Aare zum Rhein und auf diesem nach Rotterdam. Für die Schiffspassagiere findet Mary Godwin mitunter harsche Worte. Über ihre Mitreisenden auf der Reuss etwa schreibt sie: «Unsere Begleiter auf dieser Reise waren von der übelsten Sorte, rauchten ungeheuer und waren enorm abstossend.»
Küssende Deutsche
Später auf dem Rhein nervt sie sich auch über rauchende und trinkende Deutsche, die sich wichtigmachten, und – was für englische Augen besonders abstossend sei – gar küssten. Immerhin fand sie auf dem Schiff auch noch zwei, drei Kaufleute, die über beträchtliches Wissen verfügten und höflich waren.
Trotz solcher Widrigkeiten gelangten Mary Godwin, Claire Clairmont und Percy Shelley schliesslich gesund und munter nach Rotterdam. Und am 13. September waren sie zurück in England.
Rückkehr im Regensommer 1816
Im übernächsten Sommer reiste Mary Godwin – nun als Ehefrau von Shelley – erneut in die Schweiz. Begleitet wurden die beiden von Lord Byron und dessen Arzt John Polidori. Sie mieteten ein Haus am Genfersee, und da es oft regnete, verkürzten sie sich die Zeit mit Schauergeschichten und schrieben selbst welche. Dabei erfand Mary Shelley die tragische Figur von Viktor Frankenstein, der den neuen Menschen schaffen wollte und dabei ein Monster zum Leben erweckte.
«Frankenstein» ging 1818 in den Druck, ein Jahr, nachdem ihr Büchlein mit der Schilderung ihrer ersten Schweizerreise erschienen war.