Die Schule am Ende der Welt

Zum Schluss unserer Reise: ein Abstecher nach Schelten. 40 Einwohner, zwei geschlossene Restaurants, eine Schule. Und die Frage, was wirklich wichtig ist bei dieser Abstimmung.

Der Bauernhof am Ende der Welt. In Schelten wohnen 40 Menschen. Auf dem Bild: Kollege Rockenbach und der Gemeindepräsident Thomas Hirsbrunner. (Bild: Philipp Loser)

Zum Schluss unserer Reise: ein Abstecher nach Schelten. 40 Einwohner, zwei geschlossene Restaurants, eine Schule. Und die Frage, was wirklich wichtig ist bei dieser Abstimmung.

Ginge es nach Googlemaps, wir wären irgendwo unterhalb des Passwang gestrandet. Kein Netz, kein Empfang, keine Strasse aus Teer zum Gemeindepräsidenten von 2827 Schelten ganz hinten im Val Terbi. 13 einsame Häuser, 40 Einwohner, 29 Stimmberechtigte. Ein Gemeinderat mit fünf Mitgliedern, ein Gemeindepräsident abseits der Welt.

Steil geht der Waldweg zum Marchstein, sehr steil. Wäre der Winter nicht erst eine Ahnung, wir wären auf unseren Sommerpneus niemals bis zum Hof der Hirsbrunners gekommen.

So geht es gerade noch. Der Familienwagen von Kollege Rockenbach ächzt und stöhnt und kommt mit einem Knirschen vor der Scheune des Bauernhofs zu stehen. Der Hof steht eingeklemmt in einem Tal, es ist eng und weit gleichermassen, frisch und doch auch etwas bedrückend (der Nebel, der Nebel). «Ich mag das Wilde. Das Ruche. Sonst wäre ich nicht hier im Jura.» Thomas Hirsbrunner, 58 Jahre, grauer Bart, drahtiger Mensch, steht in seiner niedrigen Küche und schenkt Kaffee aus.

Bern ist weit weg

Seit 1992 wohnt und arbeitet Hirsbrunner mit seiner Familie in der Abgeschiedenheit von Schelten, seit 2005 ist er Gemeindepräsident der nördlichsten Berner Gemeinde, die eigentlich eine Exklave ist. Seit sich 1976 die französischen Nachbargemeinden von Schelten (wo noch deutsch gesprochen wird) Richtung Jura verabschiedeten, hat das Dorf nur noch an einem Punkt Kontakt mit dem Mutterkanton. Links von Hirsbrunners Hof liegt der Jura, rechts der Kanton Solothurn, etwas weiter hinten sind bereits die ersten Baselbieter Ausläufer zu sehen. Bern ist weit weg.

Und doch präsent. Am nächsten Sonntag wird Hirsbrunner in der multifunktionalen Schule sitzen und die Wahlzettel seiner Mitbürger zählen. Die Mitglieder des Gemeinderats wechseln sich im Turnus im Wahlbüro ab, seit Jahren schon. Am nächsten Sonntag wird ihnen dabei ein Wahlbeobachter über die Schulter schauen. «Es sind alle unglaublich nervös», erzählt Hirsbrunner. Eine Versammlung sei eigens zur Vorbereitung des Sonntags einberufen worden, «als würden wir zum ersten Mal eine Abstimmung durchführen».

Die wichtigen Dinge

Der Gemeindepräsident kann die Aufregung nicht ganz verstehen. Es sind andere Dinge, nähere und praktischere, die ihn als Gemeindepräsidenten umtreiben. Vor kurzem wollte die Schulinspektion das Schulhaus schliessen, einmal mehr. Die beiden Restaurants sind schon lange zu, obwohl die Schilder an den Wänden des «Restaurant du Moulin» immer noch so tun als ob. «Uns gehen die Treffpunkte aus», sagt Hirsbrunner.

Einzig die Schule ist geblieben. Mit dem angegliederten Gemeindebüro und dem Lagerhaus. Dass die Schule immer noch steht, hat Schelten seinen Bewohnern zu verdanken. Neben den sechs Dorf-Kindern besuchen auch noch vier Pflegekinder (zwei davon wohnen auf dem Hof von Hirsbrunner, der noch fünf leibliche Kinder hat) die Schule, die Primar und Sek zugleich ist. Die zehn Kinder verteilen sich auf die 1. bis zur 9. Klasse.

Die Geschichte mit der Schule, sie ist für Hirsbrunner ein Argument für den Verbleib beim Kanton Bern, wo gerade in der Bildung mehr möglich sei. Die Jurassier seien eher französisch geprägt, und gerade in Bildungsfragen etwas leistungsorientierter als die Deutschschweizer Kollegen. In anderen Bereichen sei es umgekehrt.

Grosse und kleine Fragen

Dabei ist Hirsbrunner nicht abgeneigt mit seinen Nachbarn zusammenzuarbeiten. Vor ein paar Jahren wurde eine Fusion von verschiedenen Gemeinden bis und mit Moutier angedacht, der Prozess wurde zugunsten der Jurafrage unterbrochen, die möglichen Vorteile – etwa bei den administrativen Kosten – waren allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt offensichtlich. Darum überlegt sich Hirsbrunner entgegen der Mehrheit in Schelten, die Angst hat vor der französischen Monokultur (die meisten können nicht sehr gut französisch, Hirsbrunner ist eine Ausnahme) am nächsten Sonntag doch Ja zu stimmen. Damit die grosse Frage nach der Kantonszugehörigkeit endlich geklärt ist, damit es weitergehen kann. Wenn es nach ihm geht, nicht unbedingt mit einer Fusion zwischen dem Berner Jura und dem Kanton Jura, dafür mit dem Prozess, der die Gemeinden in der unmittelbaren Nähe von Schelten näher zusammenrückt.

Hirsbrunner spricht überlegt, formuliert klare Gedanken. Und je länger er spricht, je länger er formuliert, desto klarer wird uns: Die Abstimmung vom nächsten Sonntag ist nur ein Echo auf vergangene Zeiten. Die Emotionalität ist dem Pragmatismus gewichen. Als Gemeindepräsident von Schelten geht es ihm nicht um Vagheiten wie die Frage, in welchem Kanton die eigene Souveränität nun etwas grösser sei. Es geht darum, ob der Pöstler weiterhin die Briefe aus den Milchkästen der Bauernhöfe mitnehmen und selber frankieren darf (dafür hat er kürzlich einen Rüffel erhalten). Ob die Poststelle im Nachbardorf offen bleibt, wie lange es die Schule noch gibt, ob vielleicht irgendwann wieder ein Café öffnet.

Die Ruhe

Hirsbrunner nimmt uns nach draussen, hinter den Hof. Die Hofhunde bellen nicht mehr, sie schmiegen sich an unsere Beine. Der Gemeindepräsident erklärt seine Aussicht. Sein Land. Er tut das ruhig und gelassen. Ein Mensch, der in sich ruht. Ein Mensch, der sich nicht von der Aufgeregtheit der Politik beirren lässt. Es gibt soviel Wichtigeres.

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