Die Schweiz – ein goldener Hase

Wir leben im reichsten Land der Welt. Ein paar Gründe, wie es dazu kam und warum es noch immer so ist.

Mitglieder des Initiativkomitees verteilen 8 Millionen 5-Rappen-Stuecke im Wert von 400'000 Schweizer Franken und mit einem Gewicht von 15 Tonnen auf dem Bundesplatz, am Freitag, 4. Oktober 2013, in Bern. Diese Aktion fand anlaesslich der Unterschriftenuebergabe der Initiative "Bedingungsloses Grundeinkommen" statt. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)

(Bild: Keystone)

Wir leben im reichsten Land der Welt. Ein paar Gründe, wie es dazu kam und warum es noch immer so ist.

Für die Ostertage etwas Erfreuliches: Wir sind das reichste Land der Welt. Diese Nachricht sollte sich längst herumgesprochen haben, sie stammt nämlich vom November des vergangenen Jahres und bestätigt frühere Meldungen. Diesmal ist es vom «Global Wealth Report» der Credit Suisse für uns errechnet und von der Sonntagspresse weitergereicht worden: «Schweizer sind elfmal wohlhabender als der Weltdurchschnitt.»

Höchstwahrscheinlich trifft das nur auf wenige Schweizer zu. In der Schweiz verfügt das reichste Prozent der Bevölkerung über 25 Prozent der Vermögenswerte. Auch in anderen Ländern ist der Reichtum auf wenige Wohlhabende konzentriert – allerdings auf tieferem Niveau.

Im globalen Durchschnitt verfügt ein Prozent sogar über 50 Prozent der Vermögen. Schwacher Trost: Weniger bemittelte Menschen profitieren von wohlhabenderen Mitbürgern. Das wäre zum Beispiel im appenzellischen Wolfhalden der Fall gewesen, wenn sich der Formel-1-Pilot Michael Schumacher dort niedergelassen hätte.

Strukturen, Tugenden und Glück

Dieser Oster-Artikel möchte nicht den Neid auf Bessergestellte in Gang setzen. Im Zentrum soll die Frage stehen, warum die Schweiz «so» reich ist. Diese Frage stellt man sich vielleicht weniger, wenn man selber in diesem Paradies lebt. Dafür wurde sie mir zuletzt auf einer Taxifahrt in Budapest von einem mitreisenden Kollegen aus den Niederlanden gestellt. Die Fahrt war zu Ende, bevor ich mit meinen Erläuterungen fertig war.

Die gleiche Frage hatte mir schon ein Franzose gestellt und auch gleich die Antwort gegeben, dass dies sicher mit den aus Frankreich zufliessenden Schwarzgeldern zu erklären sei.

Warum also ist die Schweiz «so» reich? Eines ist sicher: Darauf kann es keine einfache Antwort geben. Das lässt sich nur auf eine Kombination von verschiedensten Faktoren zurückführen: auf Strukturen, sicher aber auch auf Tugenden und – wie eingeräumt, aber nicht weiter erklärt wird – auf Glück.

Den wirtschaftsfördernden Effekt der Neutralität kann man auch bezweifeln.

Zu den Strukturen: Da werden die grösseren Nachbarländer genannt, die es der Schweiz mit ihren breiten Eigenwirtschaften ermöglichten, Zulieferin von wertschöpfungsintensiven Produkten zu sein. Beinahe treuherzig wird erklärt, dass es der Schweiz weniger gut ginge, wenn sie in Afrika statt in Europa läge.

Die Schweiz war eindeutig auch Kriegsprofiteurin, zum Beispiel 1914 bis 1918 mit Lieferungen von Farbstoffen für Uniformen und Uhrwerken für Munition, später auch infolge des Vorsprungs, den sie im zerstörten Europa unmittelbar nach 1945 mit ihrer unversehrten Wirtschaft hatte.

Denkt man an Krieg, ist man schnell bei der Neutralität, die man ebenfalls als Tugend einstufen kann. Den wirtschaftsfördernden Effekt der Neutralität kann man auch bezweifeln. Wegen der Unparteilichkeit könnten Geschäfte auch entgangen sein. Zudem darf man Absicht und Effekt nicht vertauschen: Die Schweiz ist aus anderen Gründen bisher mehr oder weniger neutral gewesen als aus dem Bestreben, in alle Richtungen gute Geschäfte machen zu können.

Der Erste Weltkrieg hat einem Teil der Schweiz (der Industrie, aber auch dem Finanzsektor) sicher einen starken Kick gegeben. Allerdings war die Schweiz schon um 1900 bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung Weltspitze. Dazu hat die Industrialisierung im frühen 19. oder gar die Proto-Industrialisierung im 18. Jahrhundert beigetragen und möglicherweise auch die Bereitschaft, anfallendes Kapital innovativ in «Risiko»-Projekte zu investieren.

Überschätztes Bankgeheimnis

Weiter zurückgreifend wird auch darauf hingewiesen, dass dank der Solddienste viel Geld ins damals arme Land geflossen sei. Nicht vergessen sollte man die guten Geschäfte, die einzelne Schweizer im Rahmen des europäischen Kolonialismus zu machen verstanden. Zur auch heute noch benötigten Beruhigung wird da gesagt, dass die Armut der einen nicht einfach aus dem Reichtum von anderen abgeleitet werden könne.

Für einen Teil der Reichtumgenerierung ist die Schweiz nur Durchlaufstation. Kapital kommt aus dem Ausland und geht in Form von Investitionen gleich wieder ins Ausland oder bleibt hier zum Teil hängen. Hier sind wir auch beim Bankgeheimnis, das in diesen Überlegungen aus einem an sich verständlichen Denunzierungsbedürfnis meist überschätzt wird.

Noch immer zu den Strukturen: Hier kommt der Föderalismus mit seiner den inneren Staatswettbewerb fördernden Wirkung ins Spiel. Doch landen wir so plötzlich wieder bei der zunächst bloss aus dem internationalen Vergleich wahrgenommenen Problematik: Warum ist, wenn es denn so ist, ein Kanton Zug «so» reich und der Jura nicht «so» reich? In welchem Verhältnis stehen hier Strukturen und Tugenden zueinander? Die gleiche Vergleichsfrage wollen wir für BS/BL hier nicht anschneiden.

In Konfettistaaten entstehen leichter profitable Dienstleistungszentren.

Zwei Erklärungen für den dichten Wohlstand werden im Allgemeinen wenig berücksichtigt: zum einen die Kleinheit des Landes. Konfettistaaten (von Hawaii und den Bermudas nach Monaco und San Marino über Luxemburg und Liechtenstein bis zur Schweiz) stehen tendenziell überdurchschnittlich gut da. Da entstehen leichter profitable Dienstleistungszentren.

Eine weitere Erklärung darf der bereits vorhandene Reichtum sein, der – wenn man es nicht ganz dumm anstellt – einfach noch reicher macht. Der eingangs zitierte Bericht geht davon aus, dass das Durchschnittsvermögen der schweizerischen Erwachsenen bis 2020 von jetzt 562’000 auf 606’000 Dollar ansteigen, die Schweiz also in den nächsten Jahren weiterhin Spitze bleiben wird.

Endlich zu den Tugenden: Da könnte man unterscheiden zwischen den Unternehmerqualitäten eines relativ kleinen Bevölkerungsteils und den einem ganzen Bevölkerungskollektiv (mit Ausnahmen) zugeschriebenen Qualitäten von Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit, Fleiss etc.

Weiter wird dem politischen Kollektiv «weises» Verhalten an der Abstimmungsurne attestiert, mit Ablehnungen von Initiativen für mehr Ferien und Mindestlohn oder «gerechte» Löhne (1:12); vielleicht dereinst auch mit der Bereitschaft, im Alter länger zu arbeiten. Das Votum von 2013 gegen die Abzocker könnte auf dieser Linie eher ein Ausrutscher gewesen sein.

Sind es besonders tugendhafte, nämlich arbeitswillige Ausländer, die sich von der Schweiz angezogen fühlen?

James Breiding und Gerhard Schwarz verweisen in ihrem 2011 erstmals und 2016 bereits in 3. Auflage erschienenen Buch «Wirtschaftswunder Schweiz» (2016) auf die Bedeutung einer politischen Tugend als «einmalige Balance zwischen individueller Selbstverantwortung und genossenschaftlicher Solidarität».

Es werden noch viele weitere aus Tugend geborene Vorzüge genannt: im Vergleich mit dem Ausland schwache Regelungsdichte, Zurückhaltung des Staates, Kompromissbereitschaft, Rechtssicherheit, der vertraglich abgesicherte Arbeitsfriede, die Vorliebe für mittlere Wege etc.

Sind das Schweizer Tugenden? Und stehen die Immigranten zu ihnen? Oder sind es gerade besonders tugendhafte, nämlich arbeitswillige Ausländer, die sich von der Schweiz angezogen fühlen? Gerne wird eingeräumt, dass die Schweiz einen Teil des Wohlstands ehemaligen Nichtschweizern verdankt (Nestlé, Maggi, Boveri, Hayek etc.). Nicht vergessen sollte man die weniger Qualifizierten, die – sicher in einer gewissen Win-Win-Situation – zum Beispiel die schweizerischen Infrastrukturbauten erstellen oder den Kehricht beseitigen.

Nicht einzelne Spitzenprodukte machten die Stärke aus, sondern eine vernetzte Gesamtheit: das Swissness-Paket.

Die Blicke in die Vergangenheit haben naheliegenderweise die Funktion, richtiges und wünschbares, das heisst erfolgversprechendes Verhalten für die Zukunft festzumachen. Eine generelle Einsicht dieser Art ist, dass es eine permanente Anpassungsfähigkeit braucht, um Spitzenpositionen zu halten – als Einzelunternehmen wie als Unternehmen Schweiz.

Mehr als nur Anpassung ist Innovation. Harold James, der mit der Schweiz bestens vertraute amerikanische Historiker, würdigt im Vorwort des genannten Wirtschaftswunder-Buches die aus einer Mischung von Struktur und Tugend entwickelte Innovationsfähigkeit der Schweiz. Nicht einzelne Spitzenprodukte (Banken/Schoggi/Uhren etc.) machten die Stärke aus, sondern eine vernetzte Gesamtheit: das Swissness-Paket.

Eine andere Frage ist, wie «wir» diesen Wohlstand nutzen. Nicht wenigen Durchreisenden fällt auf, dass in der Schweiz weniger gelacht wird als andernorts in der Welt. Kann der goldene Hase lachen? Macht glücklich zustande gekommener Reichtum gar unglücklich? Schöne Ostern!


PS: Das goldene Schoggi-Tier muss zurzeit ein Hase sein. Zu anderen Zeiten darf es auch ein Bär oder eine Ente sein. Die Hohlfigur «Teddy» wird sonderbarerweise vor Weihnachten als «Botschafter des Herzens» in die Regale gelegt. Alle Varianten warten jeweils als Botschafter der Schweiz auch auf den Flughäfen im In- und Ausland auf KäuferInnen. Das erinnert uns daran, dass Erfolge, die sich in Reichtum niederschlagen, auch etwas mit Marketing zu tun haben.

 

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