Die Schweiz sagt Ja zum «Lohn-Skandal»

Die Mehrheit ist für die Einführung eines Mindestlohns, fürchtet aber um den Wirtschaftsstandort. Darum hat die Initiative kaum eine Chance. Vielleicht ein Fehler.

Eine Coiffeuse schneidet mit 19.80 Franken in der Stunde nicht besonders gut ab. (Bild: Basile Bornand)

Die Mehrheit ist für die Einführung eines Mindestlohns, fürchtet aber um den Wirtschaftsstandort. Darum hat die Initiative kaum eine Chance. Vielleicht ein Fehler.

Oben – der Heilige Martin von Tours. In der einen Hand sein Schwert, in der anderen seinen Mantel, kurz vor dem Schnitt. Die eine Hälfte wird Martin um seinen eigenen Körper wickeln, die andere dem Bettler geben, damit dieser wenigstens ein bisschen etwas am Leib hat.

Unter dem Wandbild geht es an diesem Abend ebenfalls um Arm und Reich und die Frage einer gerechten Verteilung. Thema der Podiumsdiskussion im Zunftsaal des Schmiedenhofs in Basel ist der Mindestlohn. Auf der einen Seite des langen Tisches sitzt Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizer Gewerkschaftsbundes und SP-Ständerat aus St. Gallen, neben Ueli Mäder, Soziologieprofessor an der Universität Basel. Auf der anderen Seite Barbara Gutzwiller, die Basler Arbeitgeberpräsidentin, neben Martina Bernasconi, grünliberale Grossrätin und Regierungsratskandidatin.

Und schon nach den ersten Voten zeigt sich, dass in der Schweizer Realität des 21. Jahrhunderts alles sehr viel komplizierter ist als in der wunderbaren Legende vom Heiligen Martin aus dem 4. Jahrhundert.

Das Ende des Konsenses

Unbestritten ist an diesem Abend eigentlich nur ein Punkt: dass ein Lohn reichen müsste, um anständig leben zu können. Hier endet der Konsens im Zunftsaal, in der Schweiz überhaupt. Und das hilft den Gegnern. Sie haben viele Angriffspunkte. Erstens, sagen sie, sei die Initiative zu pauschal formuliert und berücksichtige weder die unterschiedlichen Regionen noch die verschiedenen Branchen. Zweitens verstosse der geforderte Eingriff gegen die Gesetze des freien Marktes. Drittens, und das ist ihr durchschlagendstes Argument, gefährde der Mindestlohn Arbeitsplätze, ja den Wirtschaftsstandort Schweiz ganz generell.

Viele Kleinunternehmen, argumentieren die Gegner, könnten sich höhere Personalkosten nicht leisten und müssten bei der Einführung eines Mindestlohns ihren Betrieb schliessen. Am Ende hätten die wenig Verdienenden statt mehr gar keinen Lohn mehr. Genau gleich argumentiert auch die Basler Arbeitgeberpräsidentin in der Schmiedenzunft. «Ein Mindestlohn ist zwar gut gemeint», sagt Gutzwiller: «Leider schafft er aber nicht mehr Wohlstand, sondern vernichtet vielmehr die Jobs derjenigen, die schon jetzt am wenigsten haben.»

So oder ähnlich klingt es in der Schweiz vor jeder Abstimmung, bei der es um wirtschaftliche Themen geht. Und die Argumente scheinen auch diesmal zu verfangen. Vor einem Jahr sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage über drei Viertel für die Einführung eines Mindestlohns aus, vor einem Monat waren 52 Prozent dafür. Bei der letzten Umfrage vor einer Woche unterstützten gerade noch 40 Prozent der Stimmberechtigten die Vorlage.

Die Angst um den Wirtschaftsstandort erweist sich für seine Vertreter einmal mehr als Wundermittel.



Ernte gut, alles gut: Aber nicht bei einem Lohn von 13.15 Franken in der Stunde.

Ernte gut, alles gut: Aber nicht bei einem Lohn von 13.15 Franken in der Stunde. (Bild: Basile Bornand)

Die Gewerkschaften wollen weiterkämpfen

Dabei scheint zumindest im aktuellen Fall die grosse Mehrheit «Ja» zu meinen, aber «Nein» zu sagen. So wie etwa die grünliberale Regierungsratskandidatin Martina Bernasconi, die Löhne unter 4000 Franken als «Skandal» bezeichnet und am 18. Mai dennoch gegen die Initiative stimmen wird. Aus Angst vor den wirtschaftlichen Folgen und weil sie nicht glaube, «dass die Initiative die Situation der Betroffenen tatsächlich verbessert», wie sie sagt.

Für die Gewerkschaften rund um den Schweizerischen Gewerkschaftsbund ist der Trend verheerend. Aber selbstverständlich denken sie nicht ans Aufgeben, selbstverständlich wollen sie noch kämpfen, das ist schliesslich ihr Job. «Entschieden ist noch gar nichts», sagt Hans-Ueli Scheidegger, Co-Leiter der Unia Nordwestschweiz, auch wenn er die Ernüchterung über die jüngsten Ergebnisse nicht ganz verbergen kann. «Die traditionelle Angstmache vor Arbeitsplatzverlust hat offenbar immer noch Wirkung», sagt Scheidegger.

Die Gewerkschaft will ihren Kampf weiterführen und bis zur Abstimmung Woche für Woche ein anderes Unternehmen an den Lohn-Pranger stellen. Zum Auftakt musste vergangene Woche die Schweizer Modekette Tally Weijl herhalten. Das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» schätzt das Vermögen der Besitzer auf 280 Millionen Franken, der Jahresumsatz beträgt rund 500 Millionen Franken. Und trotzdem zahlt Tally Weijl einem Grossteil der Angestellten deutlich weniger als 4000 Franken pro Monat.

Mit lauten Knall, Stück für Stück

«Tieflohn-Kaktus für die Modekette Tally Weijl», schreibt die Gewerkschaft Unia in einer Medienmitteilung, die sie einige Tage vor dem Auftakt zur Abschlusskampagne verschickt. Als sich am Dienstagvormittag vor einer Woche ein Dutzend Gewerkschafter mit Transparenten und roten Ballonen vor dem Basler Hauptsitz von Tally Weijl versammeln, lässt sich von den eingeladenen Sympathisanten niemand blicken.

Nach einigem Posieren für die Gewerkschaftsfotografin betritt das Grüppchen mit Transparenten und Ballonen die Empfangshalle des Unternehmens. «Smile, you work in fashion», verkündet ein Schriftzug an der Wand, doch den Gewerkschaftern ist nicht nach Lachen zumute. Etwas verloren stehen sie im Empfangsforum, einen Moment lang weiss niemand genau, wie es weitergeht. Die Kommunikationsleiterin von Tally Weijl kommt aus einer Tür und nach einem kurzen Gespräch nimmt sie mit verkrampftem Lächeln den Kaktus aus Plastik entgegen.

Einige Gewerkschaftsmitarbeiter machen unerlaubt noch ein paar Bilder, kurz darauf ist die Aktion vorbei. Die Unias verschwinden ebenso still, wie sie gekommen sind, während ein Mitarbeiter mit Schere die zur Decke aufgestiegenen Unia-Ballone zum Platzen bringt, mit lautem Knall, Stück für Stück. Eine erfolgreiche Protestaktion sieht irgendwie anders aus. 

Tally Weijl ist bei Weitem nicht das einzige Unternehmen im Visier der Unia. Auf der Liste stehen weitere grosse Modeketten wie Intimissimi, Benetton oder Claire’s. Sie alle, so die Gewerkschaft, zahlen Löhne deutlich unterhalb von 4000 Franken. Immerhin haben in den vergangenen Monaten einige Unternehmen aus dem Detailhandel bereits freiwillig Mindestlöhne eingeführt, Aldi und Lidl etwa. Und auch H&M, jahrelang Prügelknabe der Gewerkschaften, hat einen Mindestlohn angekündigt.  

Doch es gibt im Detailhandel auch jene Unternehmen, die ihren Verkäuferinnen und Verkäufern seit vielen Jahren Löhne bezahlen, von denen eine gesamte Familie leben kann. Beispielsweise das Porzellangeschäft Tavolino an der Freien Strasse. «Ich bin sowieso eine Exotin», sagt die Inhaberin Verena Häberli, «wir betreiben unser Geschäft aus Leidenschaft.» Ihre drei Angestellten verdienen weit über 4000 Franken, für Häberli eine Selbstverständlichkeit, wie sie mit gewissem Stolz sagt.

Eine Service-Angestellte verdient ohne Berufslehre rund 18 Franken in der Stunde.

Daneben gibt es für Brutschin auch ganz praktische Gründe, die für den Mindestlohn sprechen. Die bestehenden Schwierigkeiten etwa, im undurchsichtigen Geflecht von Verträgen, Abhängigkeiten und Scheinselbstständigkeiten gegen Dumpinglöhne vorzugehen, die in verschiedenen Branchen wie dem Bau, dem Haushalt oder der Pflege üblich sind. «Mit einem klar definierten Mindestlohn wäre der Nachweis sehr viel einfacher», sagt er. Hinzu kämen mögliche Einsparungen bei den Sozialleistungen. Denn wer vom Chef zu wenig erhält, um sich und seine Familie über Wasser zu halten, muss vom Staat unterstützt werden.

Umso mehr ärgern Brutschin die Schwächen, die er in der Initiative zu erkennen glaubt. Ein Mindestlohn von 4000 Franken für alle Regionen und alle Branchen – das ist ihm zu wenig flexibel. So funktioniert Brutschin, der Differenzierte. Er überlegt, wägt Für und Wider ab und sagt dann: «Ein Ja zur Initiative wäre besser.»

Sehr viel einfacher hat es sich die Gesamtregierung gemacht. Zur Interpellation des CVP-Grossrates Markus Lehmann «Mögliche Folgen einer Annahme der Mindestlohn-Initiative für den Kanton Basel-Stadt» gibt sie eine Antwort, die eigentlich keine ist. Die rot-grüne Regierung verweist auf das Abstimmungsbüechli des Bundes, die Stellungnahme des Bundesrates und die allgemeine politische Debatte, die «durchaus kontrovers geführt» werde. Ansonsten, inhaltlich nichts und wieder nichts. Diese Initiative hätte keine übermässigen Folgen für Basel, behauptet die Regierung. Darum gebe es von ihrer Seite auch keine weiteren Kommentare. Die Debatte müsse national geführt werden.

Die Regierung drückt sich vor Stellungnahme

Anstatt es allen recht zu machen, hat die Regierung mit ihrer Nicht-Antwort alle enttäuscht – auch die Gegner. «Dass die Regierung bei einer so wichtigen Vorlage nicht zu einer klaren, eigenen Haltung fähig ist, ist bedenklich und verantwortungslos», hält Markus Lehmann in einer Stellungnahme fest, die der Basler Gewerbeverband weiterverbreitete.

Sehr viel zufriedener wäre Lehmann wohl als Zürcher oder Luzerner Parlamentarier. In diesen beiden Kantonen haben die Regierungen nach entsprechenden Vorstössen ihre eigene Haltung jedenfalls in aller Klarheit dargelegt. Und diese ist klar bürgerlich – und damit klar ablehnend. Die Luzerner Regierung warnt vor «fatalen Folgen», die Zürcher Regierung liefert dazu auch noch die Begründung: Die Initiative würde «genau jenen schaden, die eigentlich geschützt werden sollten».

Es sind die altbekannten Behauptungen, die immer wieder aufgestellt werden, obwohl die vorhandenen Studien widersprüchlich sind und ernsthafte Forscher sehr viel differenziertere Schlüsse daraus ziehen. «Ohne Zweifel würde die Einführung dieser Untergrenze einen gewissen Schock auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen», sagte Josef Zweimüller, Professor für Makroökonomie und Arbeitsmärkte an der Universität Zürich, der «NZZ am Sonntag». Das ändert nichts an seiner positiven Prognose: «Ehrlich gesagt bin ich zuversichtlich, dass die Schweizer Wirtschaft den ganz gut verkraften könnte.» Schwarz sieht er vor allem für jene Unternehmen, die heute schon kaum rentabel sind.

Der Einsatz für Benachteiligte lohnt sich wenig

Solche Stimmen gehen in der Debatte allerdings unter. Dominiert wird diese von der Wirtschaft und ihren Vertretern in der Politik, auch weil potenzielle Unterstützer wie der Basler Regierungsrat lieber nichts sagen, als sich für ein paar Schlechtverdienende starkzumachen.

Ihre Befürchtung ist klar: Dass man sich mit dem Einsatz für Benachteiligte nichts als Ärger einhandelt. Das war schon beim heiligen Martin so. Als er – der hohe Offizier – seinen Mantel mit einem Armen teilte und danach selbst wie ein Bettler aussah, wurde er verspottet.

Doch das änderte sich bald einmal. Der Mann ging ins Kloster und lebte so vorbildlich, dass ihn die Menschen zum Bischof machten. Dem bescheidenen Mann war das fast zuviel. Selbstverständlich vollbrachte er aber auch in seinem neuen Amt viel Gutes und regelrechte Wunder. So wurde Martin erst zum Held und schliesslich zum Heiligen.

Längerfristig scheint sich etwas Mut manchmal eben doch auszuzahlen.

Überblick: Tieflöhne in der Schweiz

Dem Tieflohnbericht des Bundes zufolge wurden im Jahr 2010 insgesamt rund 9 Prozent der Arbeitnehmenden mit einem Stundenlohn von unter 22 Franken beziehungsweise einem Monatslohn von unter 4000 Franken entlöhnt (hochgerechnet auf 100 Prozent). Je nach Branche fallen die Anteile sehr unterschiedlich aus. Am tiefsten liegen die Löhne im Dienstleistungsbereich, vor allem in Coiffeur- und Kosmetiksalons und Wäschereien. Hier verdient mehr als die Hälfte der Angestellten weniger als 22 Franken.

Ebenfalls stark betroffen sind das Reinigungsgewerbe, die Landwirtschaft, die Hotellerie, die Textilherstellung und der Detailhandel. Insgesamt werden Frauen doppelt so häufig mit Tieflöhnen abgespeist wie Männer. Besonders hoch liegt der Anteil zudem bei Ausländerinnen und Ausländern. Entscheidend sind zudem der Ausbildungsgrad und das Alter. Der Anteil an Arbeitnehmenden mit einem Stundenlohn unter 22 Franken ist bei Jugendlichen deutlich am höchsten, beträgt aber bei den 25- bis 34-Jährigen immer noch 9 Prozent. Deutliche Unterschiede bestehen zudem zwischen den Regionen.

Im Kanton Tessin liegt der Anteil der Tieflohnbezüger mit 19 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in der Genferseeregion oder der Ostschweiz. In der Nordwestschweiz beziehen 7 Prozent der Arbeitnehmer einen Tieflohn. Die nationale Initiative für einen Mindestlohn hat bei der Abstimmung vom 18. Mai eher schlechte Chancen. Mit Neuenburg und Jura haben sich aber schon zwei Kantone im Grundsatz für die Einführung eines Mindestlohns entschieden. Nach den entsprechenden Volksentscheiden liegt die Umsetzung nun an den Regierungen und Parlamenten.

Im Pionierkanton Neuenburg ist insbesondere die Höhe umstritten – die Bürgerlichen tendieren zu 20 Franken pro Stunde, linke Politiker und Gewerkschafter zu 22 Franken. Eine Speziallösung gibt es zudem im Tessin, wo sich Kleinunternehmen und bestimmte Branchen an einen Mindestlohn halten müssen. Dieser liegt allerdings deutlich unter den Forderungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes – bei durchschnittlich 3200 Franken.

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