Die «Sofa-Partei» bringt Mursi in Bedrängnis

In Ägypten sind am Wochenende mehr Menschen auf die Strasse gegangen als während der Revolution im Frühling. Aufgestanden sind selbst die Apolitischen von ihren Sofas. Präsident Mohammed Mursi steht unter Druck – und am Dienstag läuft das Ultimatum für seinen Rücktritt ab.

Protesters opposing Egyptian President Mohamed Mursi light a flare during a protest at Tahrir Square in Cairo June 30, 2013. Egyptians poured onto the streets on Sunday, swelling crowds that opposition leaders hope will number into the millions by evening (Bild: MOHAMED ABD EL GHANY)

In Ägypten sind am Wochenende mehr Menschen auf die Strasse gegangen als während der Revolution im Frühling. Aufgestanden sind selbst die Apolitischen von ihren Sofas. Präsident Mohammed Mursi steht unter Druck – und am Dienstag läuft das Ultimatum für seinen Rücktritt ab.

Bis spät in die Nacht sind die Helikopter der ägyptischen Armee über die Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz gekreist. Ihre Piloten haben auch Fahnen abgeworfen, ein Zeichen der Solidarität des Militärs mit den Leuten auf der Strasse. Sie waren nicht die einzigen der Staatsmacht, die ganz offen die Anti-Mursi-Demonstranten unterstützten. Vor der Polizeistation im Stadtteil Dokki schwangen im Laufe des Tages gleich mehrere der weiss gekleideten Offiziere ihre ägyptischen Fahnen.

Aus Armee-Quellen kamen auch die Schätzungen über die Teilnehmerzahlen. Zwischen 14 und 17 Millionen Ägypterinnen und Ägypter sollen am 30. Juni im ganzen Land an Demonstrationen teilgenommen haben. Mit ihren roten Karten Präsident Mohammed Mursi signalisierten sie: Ein Jahr ist genug. An keinem der 18 Revolutionstage im Frühjahr 2011, die mit dem Rücktritt Hosni Mubaraks endeten, waren so viele Leute auf der Strasse.

Überraschender Erfolg

Die Organisatoren der Demonstrationen, die Initianten der Unterschriften-Initiative Tamarod (Rebellion) waren selbst überrascht über ihren Erfolg. 22 Millionen Ägypter hatten in den vergangenen Wochen ihren Aufruf zum Rücktritt des Präsidenten zwar unterschrieben, aber dass so viele von ihnen auch den nächsten Schritt gehen und an Kundgebungen teilnehmen, das war nicht unbedingt zu erwarten. Umsomehr als in den Tagen vor dem 30. Juni die Angst vor gewaltsamen Zusammenstössen fast zu einer Panik geworden war, nachdem die Anhänger des Präsidenten angekündigt hatten, dass auch sie ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen werden und sich nicht aus der Öffentlichkeit verdrängen lassen.

Ganz ohne Gewalt ist der Sonntag nicht verlaufen. Aber die Grossdemonstrationen in Kairo blieben friedlich und das war neben den kühleren Abendtemperaturen auch der Grund, weshalb sich viele spät noch entschlossen hatten, an den Manifestationen teilzunehmen, die in den Abendstunden zunehmend Festcharakter hatten.

Zu den schlimmsten Gewaltausbrüchen kam es in der Nacht zum Montag im Kairoer Stadtteil Moqattam beim Hauptquartier der Muslimbrüder. Dort starben mindestens acht Menschen an Schussverletzungen. Es soll aus dem Gebäude geschossen worden sein, das am Montag dann von Demonstranten besetzt und verwüstet wurde. Weitere acht Todesopfer und über 700 Verletzte nach Zusammenstössen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern gab es in einem halben Dutzend Städten des Landes, meldete das Gesundheitsministerium.

Freude und Erleichterung

Zum grossen Erfolg der Demonstrationen beigetragen – und das haben auch die Organisatoren bestätigt – haben neben den angestammten Revolutionären vor allem die Mitglieder der sogenannten «Sofa Partei». So nennen die Ägypter jene, die sich zwar im Fernsehen jede politische Talkshow ansehen, aber nie selbst aktiv werden. Sie haben diesmal zu Zehntausenden ihr bequemes Sofa verlassen; viele von ihnen weil sie unter der Wirtschaftskrise leiden oder weil sie eingefleischte Gegner der Muslimbrüder sind. Wie Adel der Buchhalter, der sich mit Putzen sein Geld verdient, weil er keinen besseren Job findet. Er ging zum ersten Mal überhaupt an eine Demonstration.

Im Vorfeld gab es während Tagen für ihn kein anderes Thema. Für ihn sind die Muslimbrüder nicht nur Versager, er hält sie auch für Lügner und Betrüger und bei seiner Argumentation schimmert die Mubarak-Indoktrination gegen die Islamisten ganz deutlich durch. Oder Mustafa der gut situierte Besitzer einer Textilfabrik, der zwei grosse Fahnen vor sein Haus gehängt hat. Mustafa ist ein gläubiger Muslim, der kein Gebet auslässt, aber mit Religion Politik zu machen, das ist ihm zutiefst zuwider.

Am Morgen nach den Protesten waren Freude und Erleichterung die beherrschenden Gefühle der Menschen in den Kairoer Strassen. Erleichterung, dass die Szenarien eines Blutbades nicht Wirklichkeit wurden und Freude über den unüberhörbaren millionenfachen Protestruf. Langsam kommt der Alltag wieder in Gang. Nur einige Tausend hatten in der Nacht auf Montag auf dem Tahrir-Platz und vor dem Präsidentenpalast campiert. Gegen Abend dürfte ihre Zahl wieder anschwellen. In mehreren Provinzen wurden die Gebäude der Gouverneure besetzt. Auch in Kairo konnten die Angestellten der Mogamma, dem gigantischen Verwaltungskomplex am Tahrir, ihre Arbeit nicht aufnehmen. Vor der Rabaa al-Adawiya Moschee in Nasr City besteht auch das Zeltcamp der Islamisten weiter, die einen Rücktritt Mursis verhindern wollen.

Referendum als Ausweg?

Der Präsident hat bisher noch nichts von sich hören lassen. Nur einer seiner Sprecher trat am späten Sonntagabend vor die Presse und rief erneut zu einem Dialog auf und hat angetönt, dass allenfalls die Regierung ausgewechselt werden könnte. Der einflussreiche sunnitische Kleriker Youssef Qaradawi, eigentlich ein treuer Unterstützer der Muslimbrüder, riet Mursi, sich die Opposition anzuhören. Ein Führungsmitglied der salafistischen Nour-Partei meinte sogar, vielleicht sei es doch erforderlich, dass der Präsident eine Volksabstimmung ausrufe und die Bürger und Bürgerinnen befrage, ob sie Neuwahlen wollen oder nicht.

Die gesamte Opposition, die sich nun in der 30.-Juni-Front zusammengeschlossen hat, beharrt nach den erfolgreichen Massenprotesten erst recht auf ihrer Forderung und hat dem Präsidenten ein Ultimatum bis Dienstag um 17.00 Uhr gesetzt. Tritt er bis dann nicht zurück, werden die Proteste an allen Epizentren verstärkt und ein Marsch gegen den al-Quba-Präsidentenpalast organisiert. In diesem Palast hat der Präsident sein Ausweichquartier eingerichtet.

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