Die Streumunition in den Köpfen entschärfen

Der pensionierte Aachener Schulleiter Heinz Jussen organisiert ein ambitioniertes Mammutprojekt: Den Friedenslauf «Flame For Peace», der 2014 von Sarajevo quer durch Europa nach Aachen führen soll und auch durch die Region Basel verläuft.

Der pensionierte Aachener Schulleiter Heinz Jussen organisiert ein ambitioniertes Mammutprojekt: Den Friedenslauf «Flame For Peace», der 2014 von Sarajevo quer durch Europa nach Aachen führen soll und auch durch die Region Basel verläuft.

Heinz Jussen, 72, aus Aachen hat ein wahrlich bewegtes Leben hinter sich. Erst Bergmann, Kampfsportler, Leichtathlet, dann Kampftruppausbilder bei der deutschen Polizei. 1974, nach einem eskalierten Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten, war Jussen angewidert von der Gewalt, die er auch noch förderte – und stieg aus.

Er studierte Pädagogik, arbeitete lange Jahre als Lehrer in Aachen und war zuletzt Schulleiter der Abendrealschule Bonn. Als Flüchtlinge aus dem Bosnienkrieg an seiner Schule landeten, fuhr er spontan Hilfsgütertransporte in die eingeschlossene Stadt Tuzla und bekam dafür später das Bundesverdienstkreuz. Jetzt will er sich auf langer Strecke selbst bewegen, um etwas zu bewegen: Jussen organisiert mit einer handvoll Leute den Friedenslauf «Flame For Peace» und will im nächsten Sommer fast 3’000 Kilometer von Sarajevo nach Aachen laufen. Dabei geht es Anfang September auch durch die Region Basel.

Herr Jussen, Sie wollen im Sommer mit dann 73 Jahren mal eben von Sarajevo nach Aachen joggen. Da werden manche denken: Der ist ja wohl etwas verrückt.

Ich werde ja nicht allein laufen, wir werden auf jeder Tagesetappe immer gut 20 Leute sein und uns in kleinen Gruppen von 50 bis 60 Kilometern wie bei einer Staffel immer abwechseln. Ich bin davon überzeugt, dass es neben uns Stammläufern viele Leute geben wird, vor allem junge, die unterwegs mit grosser Begeisterung mitmachen werden. Start wird am 28. Juli sein, hundert Jahre nach dem Beginn des 1. Weltkriegs. Am 21. September, dem Weltfriedenstag der Uno, werden wir in Aachen ankommen. Abends beginnt unser Friedenstheaterfestival Bina Mira, zu deutsch: Bühne des Friedens, im Stadttheater, unserem Kooperationspartner.

Warum laufen und warum dazu noch so lang, quer durch Europa durch 12 Länder?

Wir wollen, symbolisiert durch die Friedensflamme, eine Botschaft durch den Kontinent tragen. Nie wieder Krieg in Europa und nie wieder ein Krieg, der von Europa ausgeht. Wir wollen dafür eintreten, dass die Jugend Europas überall gleiche Chancen hat. Die Kriege auf dem Balkan sind vorbei, aber friedlich in unserem Sinne ist es noch lange nicht. Speziell in Bosnien gibt es drei Ethnien – die orthodoxen Serben, die katholischen Kroaten und die muslimischen Bosniaken. Bis heute gibt es zum Teil heftige Auseinandersetzungen im Zivilleben – von wegen Frieden.

Hier ist das schwierig nachzuvollziehen.

Das ist es, ja. Was hier wie Friedensgesäusel von Gutmenschen klingt, ist dort existenziell. Heute noch gehen junge Leute der verschiedenen Ethnien mit Flaschen und Steinen aufeinander los. Berufschancen für Jugendliche sind gleich null. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp 60 Prozent – und für Jugendliche ist es noch schlimmer. Wenn man über Perspektivlosigkeit der jungen Leute in Spanien oder Griechenland spricht, kann man sich die Dimension in Bosnien gar nicht vorstellen. Darauf soll unser Lauf hinweisen.

Wie kommt ein pensionierter Schulleiter zum Engagement für eine so weit entfernte Ecke Europas?

Die totale Zerstörung meiner Heimatstadt Jülich habe ich als Kriegskind mit knapp vier Jahren nur zufällig überlebt. Beim Fliegerangriff am 16. November 1944 bin ich durch grossen Zufall, weil meine Mutter die Papiere vergessen hatte, nicht in den Luftschutzraum gekommen. Der wurde getroffen – keiner überlebte. «Fliegeralarm» war eines der ersten Wörter, die ich als dreijähriges Kind lernte.

Bald nachdem der Krieg in Bosnien begann, 1992, hatten wir an der Abendrealschule in Aachen Deutschkurse für Flüchtlinge. Bei der ersten Kennenlernrunde schossen einem Suad Bajramovic, 16 Jahre alt, Tränen in die Augen; der konnte nicht reden, er schämte sich so. Seine Augen, dieses Leid, das war für mich der Krieg. Ein Freund von ihm sagte: «Eltern von Suad tot. Granata. In Tuzla.» Ich habe die Hand auf Suads Schulter gelegt, wollte irgendetwas sagen. Herzliches Beileid verstand er nicht. Ich war so hilflos. Plötzlich sprach es aus mir heraus: «Suad, ich fahre nach Tuzla.» Nur dieser Satz.

Ein Freund von ihm sagte: «Eltern von Suad tot. Granata. In Tuzla.» Ich habe die Hand auf Suads Schulter gelegt, wollte irgendetwas sagen. Herzliches Beileid verstand er nicht.

Das war ein Versprechen!

Ja, ich hab nur gedacht, was hast du da gesagt? Dann fehlte Suad ein paar Tage. Als er nach einer Woche wiederkam, war seine erste Frage: «Herr Jussen, du fahren nach Tuzla?» Da hab ich ja gesagt.

Was wurde daraus?

Tuzla war eingeschlossen, da konnte man gar nicht hin, hiess es hier. Ich habe erst einen anderen Bosnier kennen lernen müssen, dem sowieso alles egal war – er hatte bereits 17 nahe Verwandte in diesem Krieg verloren. In einem LKW mit 12 Tonnen Hilfsgütern sind wir dann los. Mehrfach mit abgeblendetem Licht und Vollgas direkt neben der Front hindurch, irgendwie sind wir durchgekommen und waren der erste LKW mit Hilfsgütern, der die eingekesselte Stadt erreichte.

Wir hatten vor allem Babykost für ein Waisenhaus. Elf Hilfstouren wurden es. Und es gab keine Fahrt ohne lebensbedrohliche Situationen. Durch Beschuss, Hinterhalt, Überfälle. Einmal hatte uns eine paramilitärische kroatische Gruppe fünf Tage lang gefangen genommen.

Die Kriegserlebnisse sitzen tief in mir, besonders das Massaker in Tuzla, als drei Granaten der serbischen Separatisten, zynischerweise am Tag der Jugend, 1995 gezielt in ein Jugendcafe gefeuert wurden. 71 junge Leute hat es zerrissen. Wenige Tage danach kam ich mit einem Hilfstransport an und habe noch Fetzen von Menschen und eine blutrote Strasse gesehen.

Daraus entwickelte sich dann das Friedenstheaterfestival?

Die Idee zum jährlichen Festival entstand zehn Jahre später, nach Schulpartnerschaften und Wirtschaftshilfe. Man muss die Streumunition in den Köpfen der Jugendlichen entschärfen. In ihren Geschichtsbüchern lesen die jungen Leute bis heute völlig unterschiedliche «Wahrheiten». Wir wollen fördern, dass die verschiedenen Volksgruppen zueinander finden. Daraus ist Bina Mira entstanden, das Friedenstheaterfestival.

Gibt es eigentlich, auch wenn Sie so viele Kontakte auf dem Balkan haben, eigene Sympathien?

Ganz ehrlich: Klischees waren sofort da. Meinungen entstehen durch Medieninformationen. Erst waren es die bösen Serben, dann zum Teil die bösen Kroaten und die armen Bosniaken, mit denen ich meist als Opfer zu tun hatte. Durch Bina Mira, durch Kontakte zu jungen Serben, haben sich solche Vorurteile langsam aufgelöst.

Was halten die Bewohner des Balkans eigentlich davon, dass ein paar dahergelaufene Aachener jetzt mehr Frieden schaffen wollen in ihren Ländern?

Es ist auffallend, wie wir in Serbien als auch in der bosnischen serbischen Republik immer von Offiziellen empfangen werden – bis ganz oben zu Ministern und zum Parlamentspräsidenten. Und wir sind ja nicht nur dahergelaufene Aachener, sondern haben auch Angehörige aus dem ehemaligen Jugoslawien in unserer Gruppe. Eine Serbin ist dabei, eine Kroatin und der Mujo aus Bosnien. Den hab ich während des Krieges in Zenica kennengelernt. Mit unserer Unterstützung hat er es geschafft durch einen Tunnel unter dem Flughafen von Sarajevo nach Kroatien zu fliehen.

Kurz darauf stand er hier bei mir vor der Tür. Er hat dann an der Sporthochschule studiert und ist jetzt Lehrer. Er wird auch mitlaufen. Über das Friedenstheaterprojekt sind Netzwerke und viele Freundschaften entstanden. Erst in Tuzla, dann in Zenica und Sarajevo, jetzt auch nach Srenjanin in Serbien. Ich bin gespannt, wer von den vielen Freunden da unten mitläuft.

Ein Lauf über 3.000 Kilometer durch 12 Länder – da fährt man nicht mal eben hin und rennt los!

Das ist nur zu schaffen, wenn wir den Lauf gut strukturieren und detailliert planen. Mit unseren zehn Leuten, dazu alles ehrenamtlich, ist das eine Menge. Froh sind wir über eine PR-Beraterin und eine Projektmanagerin, die uns unentgeltlich helfen. Eine davon ist die frühere Schwimm-Olympiasiegerin Rica Reinisch, die auch mitlaufen will.

Was wird der Spass denn kosten?

Nach ersten Überlegungen kamen wir auf 100’000 Euro – für Transport, Begleitfahrzeuge, Verpflegung, Übernachtungen und vieles mehr. Im August haben wir im Sauerland einen Unternehmer gefunden, der Hotelbusse vermietet. Der hat sich «durch die Friedensflamme entzünden lassen», wie er geschrieben hat. «Herr Jussen, Sie haben mein Herzblut erreicht.» Kurz: Wir bekommen einen Doppeldecker-Bus mit 23 Schlafplätzen zum Tagespreis von 220 Euro inklusive Sprit statt normal 750. Damit ist die Unterbringungsfrage gesichert und das Budget um einiges entlastet. Jetzt suchen wir noch engagierte Busfahrer, die da wochenweise mitmachen wollen.

Fehlt es noch an Läufern?

Ja, es gibt zwar einige Anfragen, aber wir haben noch Kapazitäten. Wer sich mit unserer Idee identifizieren kann, Lust auf unsere Gruppe hat und Luft für fünf oder zehn Kilometer am Tag – bitte sehr! So etwas wird man in seinem Leben nicht mehr machen können. Mit dem Hotelbus wird es auch eine Art Aktivurlaub, in Ländern, in die man sonst kaum kommt wie Bosnien oder Serbien. Jetzt werden wir Schulen, Lauftreffs und Friedensgruppen entlang der Strecke in den 54 Etappenorten kontaktieren, natürlich auch offizielle Stellen und Medien. Vor Ort soll ja am besten jeder mitlaufen, der Joggingschuhe besitzt.

Am Ende sind alle fitte Jogger, haben eine idealistische Idee verbreitet und können sagen: War völlig verrückt aber hat funktioniert!?

Na ja, einigermassen fit bin ich jetzt schon. Ich laufe pro Woche 30-40 Kilometer. Beim Friedenslauf kann man sicher etwas ganz Besonderes nach Hause tragen. Wir haben den Segen des Europäischen Parlaments, offiziell Patronage. Und wir freuen uns den Kölner Schriftsteller Günter Wallraff, der auch eine Etappe mitlaufen will, wahrscheinlich in Verdun. Und über den bosnischen Fussballstar Vedad Ibisevic, der uns als eine Art Pate unterstützt. Es kann übrigens durchaus sein, dass ich dem 8-jährigen Vedad im belagerten Tuzla, wo er im Krieg lebte, ein Hilfspaket in die Hand gedrückt habe.

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Mehr zum Thema:

Netz: flameforpeace.de  mit Details zu Teilnahme, Strecke und Idee.

Paten: Vedad Ibisevic, bosnischer Stürmer des VfB Stuttgart, schreibt: «In meiner Kindheit habe ich den Krieg leider hautnah erlebt. Das hat mein Leben bis heute geprägt. Vor kurzem haben wir uns mit Bosnien-Herzegowina für die Fussball-Weltmeisterschaft qualifiziert und sind in der Heimat deshalb begeistert empfangen worden. Ich hoffe, dass auch dieser Friedenslauf mit den Etappen durch mein Heimatland dazu beiträgt, dass die Lebensfreude ein kleines Stück weiter zu den Menschen zurückkehrt.»

Strecke in Auszügen: Sarajevo (28.7.), Srebrenica, Tuzla, Banja Luka, Zagreb, Ljubljana, Villach, Salzburg, Bad Tölz, Friedrichshafen (31.8.), Konstanz (1.9.), Basel (3.9.), Freiburg (5.9.), Strassburg (8.9.), Verdun, Luxemburg, Lüttich, Maastricht, Aachen (21.9.). In allen 54 Etappenorten sind Veranstaltungen geplant.

Spenden:Aachener Netzwerk eV, Stichwort: Bina Mira, Flame For Peace. Konto 317 008, Sparkasse Aachen, BLZ: 390 500 00

Kontakt: Heinz Jussen +49-241-53106620, heinz-jussen@web.de

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