Die Einheitskasse hat einen schweren Stand. Sie wird von allen Seiten bekämpft und als «sozialistisch» gebrandmarkt. Dabei spricht kaum jemand über die eigentlichen Argumente. Was will die Initiative überhaupt?
Beim Stichwort «Einheitskasse» wird die Kundenberaterin hellhörig. «Also, da bin ich ganz und gar nicht dafür», sagt sie wie aus der Kanone geschossen. Die Frage war: Was würde sich bei der Umstellung auf eine öffentliche Krankenkasse ändern? «Die Preise gehen hoch, sie haben keine Wahlfreiheit», schiebt sie nach.
Politische Kundenberatung nennt sich das wohl, wenn die Versicherungen ihren Kunden nebenbei eine Abstimmungsempfehlung mitgeben. Einige Krankenkassen haben ihre Mitarbeiter eigens dafür in eine Schulung geschickt, damit sie die Kundenfragen zur Einheitskasse in ihrem Sinne besser beantworten können.
Auch in Infobroschüren richten sich die Krankenkassen an ihre Kunden. Die CSS etwa erklärt im aktuellen Kundenmagazin auf zwölf Seiten, weshalb die Kunden besser Nein stimmen sollten. Die Argumente der Befürworter sind auf wenige Zeilen zusammengestaucht. Rund 780’000 CSS-Versicherte erhalten so ein Gegen-Argumentarium für die Abstimmung vom 28. September.
Ungleicher Abstimmungskampf
Für das Initiativkomitee geht das einen Schritt zu weit. Es wirft den Versicherern illegale Propaganda vor und droht mit einer Klage. Die Rechtslage ist ziemlich eindeutig: Krankenkassen erfüllen in der Grundversicherung eine öffentliche Aufgabe, sie handeln in diesem Aufgabenfeld also wie eine Behörde und müssen sich deshalb politisch neutral verhalten.
Es ist ein ungleicher Abstimmungskampf. Den Initianten stehen laut eigenen Angaben 150’000 Franken zur Verfügung, das Nein-Komitee, das aus einer Allianz von Krankenkassen, Ärzten und Gesundheitsverbänden besteht, investiert fünf Millionen Franken. Die Initianten meinen, das Gegner-Budget liege noch viel höher.
«Wir sind keine Einheitspatienten», sagen die Gegner. Ein Bild zeigt sechs Personen, die mit Verbänden eingehüllt sind. Es werden Assoziationen zum Sozialismus geweckt, der die Menschen gleichmacht.
Chronisch Kranke und ältere Versicherte werden an andere Kassen abgeschoben, behaupten die Befürworter der Einheitskasse.
Dann taucht ein Rechtsgutachten auf, das besagt, dass es mit der öffentlichen Krankenkasse keine tieferen Prämien für Kinder und junge Erwachsene geben kann. Das Gutachten trifft die Initiative ins Herz, hat sie doch die Absicht, ein effizienteres und günstigeres Gesundheitssystem zu schaffen. Die SP-Initiantin Jacqueline Fehr wehrt sich dagegen. Im Vorlagen-Text sei ein Lapsus unterlaufen, das Gutachten sei «abenteuerlich».
Worum ging es? In der Gesetzesvorlage der Initiative ist auf Deutsch von einer «einheitlichen Prämie» die Rede. Im französischsprachigen Text steht hingegen nichts von «einheitlich». Die Übersetzung sei ungenau, räumt SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr vom Initiativkomitee ein. Die Schlussfolgerungen des Gutachtens seien deshalb unhaltbar.
Auf der Seite der Befürworter wird auch nicht gerade mit Polemik gegeizt. Von «Prämienexplosion» und «Kassendschungel» ist die Rede. «Verschleuderung unserer Prämiengelder verhindern» klingt ebenso unsachlich. Wer an echten Argumenten interessiert ist, muss tiefer graben.
Ein zentrales Argument für die Initiative sind die falschen Anreize für Krankenversicherungen. Es gebe eine «unsoziale Jagd auf gute Risiken». Das heisst: Um Kosten einzusparen, versuchen Krankenkassen, ihr Risiko zu minimieren. Chronisch Kranke und ältere Versicherte werden an andere Kassen abgeschoben, behaupten die Befürworter der Einheitskasse.
Schikanierte Patienten
Stimmt das wirklich? «Solche Fälle gibt es», sagt die grünliberale Nationalrätin Margrit Kessler von der Schweizerischen Patienten-Organisation: «Es findet eine Risikoselektion statt, indem Krankenkassen ihre teuren Patienten schikanieren oder nicht gut begleiten.»
Sie schildert ein Beispiel: Eine Patientin mit Brustkrebs ruft bei ihrer Versicherung an. Die verantwortliche Mitarbeiterin ist über Wochen nicht erreichbar, man sagt ihr, die Mitarbeiterin sei in den Ferien. Die Patientin braucht dringend Geld, um weitere Rechnungen zu bezahlen. 6000 Franken kosten ihre Medikamente im Monat, die Versicherung zahlt nach dem Modell «tiers payant» nicht direkt an die Apotheke, sondern erst im Nachhinein. Die Patientin muss auf diese Weise bis zu 18’000 Franken im Voraus bezahlen und hat keine Möglichkeit, sich rechtlich dagegen zu wehren. Schliesslich habe die Patientin die Kasse gewechselt, sagt Kessler.
Gut für die Versicherung, denn nun ist sie die teure Risikopatientin losgeworden. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist das eine logische Vorgehensweise, moralisch gesehen ist es zumindest fragwürdig.
Dass Versicherungen ihre Risiken optimieren, kann ihnen keiner verdenken. Und die Risikoselektion hat auch Vorteile – zumeist für junge, gesunde Versicherte. Sie werden von den Krankenkassen umworben und erhalten günstige Prämien. Ältere Patienten und chronisch Kranke geraten dagegen oft in Schwierigkeiten. Es geht bei der Initiative deshalb auch um die Frage, wie die Gesellschaft mit einer Minderheit von chronisch Kranken umgeht. Wie solidarisch soll unser Gesundheitssystem funktionieren? Wie viel Wettbewerb darf sein, wenn es um kranke und schwache Menschen geht?
Ein Schritt auf die Initianten zu
Das Parlament bemüht sich bereits um einen gerechten Risikoausgleich. Damit Patienten mit hohen Kosten nicht nur als Klumpenrisiko betrachtet werden, sollen Krankenkassen einen Ausgleich erhalten, wenn sie solche Patienten aufnehmen. Mit dem verfeinerten Risikoausgleich hat das Parlament nun einen Schritt auf die Initianten zugemacht. Für manche ist das jedoch zu wenig. «Die neue Gesetzesvorlage des Bundesrates ist bezüglich Risikoausgleich absolut ungenügend», findet etwa Yvonne Gilli, Ärztin und Nationalrätin der Berner Grünen, die im Initiativkomitee sitzt. Das neue Gesetz trete erst 2017 in Kraft, und der Risikoausgleich werde nur um 11 Prozent verbessert.
Bei der Einführung einer öffentlichen Krankenkasse wäre der Risikoausgleich komplett überflüssig. Die einheitliche Kasse hätte kein Interesse daran, Risikopatienten auszusortieren. Im Gegenteil: Die öffentliche Krankenkasse würde sich besser um chronische Kranke kümmern, um gesamthaft die Kosten zu senken, so das Argument der Befürworter.
Eine SP-Studie kommt zum Schluss, dass die öffentliche Krankenkasse effizienter arbeiten würde, da sie langfristig daran interessiert sei, die Kosten zu senken. Die Rede ist von Fallbegleitung, strukturierten Behandlungsprogrammen und mehr Prävention.
Die öffentliche Krankenkasse hätte ein Interesse daran, möglichst nachhaltig zu heilen.
Was heisst das konkret? Ein Patient mit chronischen Knieproblemen erhält von der Krankenkasse zum Beispiel eine Fallbegleitung zugewiesen. Der Kassenmitarbeiter kann zwischen Arzt und Patient vermitteln, zusätzliche Behandlungen vorschlagen oder von überflüssigen Operationen abraten – immer mit dem Auftrag, möglichst langfristig und kostengünstig zu behandeln.
Von vielen Krankenkassen wird dieses Modell nicht angeboten. Es lohnt sich nicht, da die privaten Kassen vor allem kurzfristig denken. Die öffentliche Krankenkasse hätte hingegen ein Interesse daran, möglichst nachhaltig zu heilen, um Folgekosten zu vermeiden.
Bei diesen Einsparmöglichkeiten geht es in erster Linie um eine langfristige Entwicklung. Die SP-Studie rechnet vor, dass fünf Prozent der Versicherten rund die Hälfte aller Gesundheitskosten verursachen. Wenn man also bei dieser Minderheit ansetzen würde, dann könnten bei einem Effizienzgewinn von zwanzig Prozent rund zehn Prozent der Gesamtkosten eingespart werden. Das ergäbe «ein Einsparpotenzial von bis zu zwei Milliarden Franken», heisst es in der Studie optimistisch.
Die öffentliche Krankenkasse will «das Kostenproblem bei der Wurzel packen»: «Sie kümmert sich um die Minderheit der Versicherten, die am meisten Kosten verursachen.» Ist das wirklich die Wurzel des Problems?
Prämienanstieg um 5 Prozent
Fest steht: Die Gesundheitskosten steigen seit Jahren stetig. Grund dafür sind unter anderem die alternde Bevölkerung und immer umfassendere Behandlungsmöglichkeiten. Allein im Jahr 2012 beliefen sich die Ausgaben für Spitalaufenthalte, Arztbesuche, Pflege und Medikamente auf 68 Milliarden Franken. Und jedes Jahr steigen die Krankenkassenprämien um durchschnittlich 4,5 Prozent, berechnete der Krankenkassenverband Santésuisse (ausgehend von 1996 bis heute).
Auch dieses Jahr rechnet Santésuisse mit einem saftigen Prämienanstieg um rund 4,5 Prozent. Just ein paar Tage vor der Abstimmung Ende September sollen die neuen Prämien bekanntgegeben werden. «Starke Prämiensteigerungen oder der Konkurs einer Krankenkasse kurz vor der Abstimmung werden das Stimmverhalten beeinflussen», glaubt die Grünen-Politikerin Gilli.
Ob bei einer Annahme die «Prämienexplosion» tatsächlich gestoppt würde, bleibt offen.
Die Gegner sind überzeugt: «Die Prämien würden mit einer Annahme der Initiative eher steigen. Wenn es keine Konkurrenz gibt, wird das System teurer», sagt die grünliberale Nationalrätin Margrit Kessler.
Ist die Rechnung so einfach? Daniel Stolz, FDP-Nationalrat aus Basel-Stadt, bekräftigt die These: «Es gibt unzählige Studien und Fallbeispiele, die belegen, dass grosse Organisationen zu Ineffizienz neigen, und wenn sie dann auch noch keine Konkurrenz haben, ist es noch schlimmer.» Er ist sich sicher, die Umstellung auf eine öffentliche Krankenkasse würde zu «massiv höheren Prämien» führen.
Ein zentraler Punkt der Gegner sind die Wechselkosten, die eine solche Umstellung nach sich ziehen würde. Die Umstellung würde bis 2023 dauern und zirka 1,75 Milliarden Franken verschlingen, kalkuliert das Wintherthurer Institut für Gesundheitsökonomie. Alle Kundendaten müssten neu aufgenommen werden, da die Datenmigration von den bestehenden Krankenkassen schwierig ist. Ein riesiger Aufwand also. Lohnt er sich, wenn unsicher ist, ob es dadurch zu Einsparungen kommt?
Freipass für die Krankenkassen
In einem Punkt bringt die öffentliche Krankenkasse sicher Einsparungen: bei den Verwaltungs- und Werbekosten. Darüber sind sich Befürworter und Gegner einig. Nur: Wie viel eingespart wird, ist unklar. Von 300 bis 350 Millionen Franken reden die Befürworter, das wäre eine Einsparung von 1,5 Prozent der Prämien. Die Gegner meinen es sei noch weniger, da die neue Kasse ebenso Geld für Beratungen und Kundenwechsel aufwenden müsste. Am Ende sei der Gewinn so klein, dass sich die ganze Umstellung nicht lohnt.
Ob die Prämien sinken oder steigen – darum geht es Yvonne Gilli nicht in erster Linie. Sie will vielmehr «allen Bürgern eine hohe Gesundheitsversorgung garantieren». Gesundheitsversorgung unter dem Motto «Sparen» sei nie gut, erklärt Gilli.
Am 28. September könnte aber genau dieser Punkt ausschlaggebend sein. Entscheidend wird sein, welcher Seite es gelingt, überzeugende Argumente für ein kostengünstiges Gesundheitssystem zu präsentieren.
Vor einem Jahr hätten 65 Prozent Ja gestimmt – heute sind es nur noch 49 Prozent, Tendenz: sinkend. Sollte die Initiative scheitern, wäre dies ein Freipass für die Krankenkassen, befürchten die Befürworter. Die Prämien würden dann erst recht nach oben schnellen.