Die Töchter der Madonna – adoptierte Italienerinnen auf der Suche nach den Eltern

Anna Arecchia wusste nichts von ihrer Adoption. Jahrzehntelang forschte sie nach ihren leiblichen Eltern. Im katholischen Italien wird diese Suche immer noch erschwert.

Anna Arecchias Geburtsmedaille aus dem Annunziata-Krankenhaus in Neapel und das über dem Herzen zerrissene Bild der Madonna. Die andere Hälfte hatte wohl ihre leibliche Mutter.

(Bild: Max Intrisano)

Anna Arecchia wusste nichts von ihrer Adoption. Jahrzehntelang forschte sie nach ihren leiblichen Eltern. Im katholischen Italien wird diese Suche immer noch erschwert.

Als Kind wurde Anna Arecchia jeden Abend geschickt, um Milch für den nächsten Tag zu holen. «Du bist eine Tochter der Madonna», sagte die Milchfrau zu ihr. «Figli della Madonna», so nannte man seit Jahrhunderten in Italien die Kinder, die von ihren Müttern kurz nach der Geburt ins Waisenheim gebracht wurden. Meist adoptierten kinderlose Paare die Kleinen, ohne ihnen je davon zu erzählen. Unehelicher Nachwuchs war noch im vergangenen Jahrhundert eine ebenso grosse Schande wie die Unfähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen. Noch in den 1950er-Jahren kamen in Italien pro Jahr etwa 5000 sogenannte Findelkinder zur Welt.

Anna Arecchia wusste von nichts, aber sie hatte eine Ahnung. Als Heranwachsende erinnerte sie sich an die Worte der Milchfrau und vermutete, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern sein könnten. Als sie mit 20 heiraten wollte, beantragte sie beim Standesamt in Neapel ihre Geburtsurkunde. «Geboren von einer Frau, die ihren Namen nicht nennen will», stand dort geschrieben. «Eine Welt brach für mich zusammen», sagt Arecchia. Sie ist heute 54 Jahre alt.

Zu den Grundbedürfnissen eines Menschen gehört es, seine Ursprünge zu kennen. Das wissen nicht nur Psychologen. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben das festgestellt. Dennoch wird dieses Recht, bei dem zwischen dem Anspruch der Kinder und dem Schutz der Anonymität der Mütter abgewogen werden muss, nicht immer gewährleistet.

100 Jahre warten

Schon gar nicht in Italien. Hier müssen Adoptivkinder aus Gründen des Datenschutzes 100 Jahre warten, bis sie einen rechtlichen Anspruch auf das Wissen über ihre biologischen Ursprünge bekommen. Eine Farce. Erst jetzt, nach einem ins römische Parlament eingebrachten Gesetzesentwurf, beginnt sich die Lage trotz heftiger Widerstände langsam zu ändern.

Arecchia sitzt in einem Café der Kleinstadt Caserta bei Neapel. Die Mathematiklehrerin ist Mitgründerin des «Komitees für das Recht auf die biologischen Ursprünge». In der Hand hält sie ein abgegriffenes Madonnenbild, zur Hälfte abgerissen. «Das Bild ist genau an der Brust der Madonna abgerissen, an ihrem Herzen. Wie ein gebrochenes Herz», sagt Arecchia. Sie ist sicher, dass ihre leibliche Mutter die andere Hälfte behalten hat.



Anna Arecchia mit ihrer Geburtsmedaille aus Weissblech und dem zerrissenen Bild der Madonna.

Anna Arecchia mit ihrer Geburtsmedaille aus Weissblech und dem zerrissenen Bild der Madonna. (Bild: Max Intrisano)

Noch im vergangenen Jahrhundert waren anonyme Geburten an der Tagesordnung. Meist sehr junge, manchmal vergewaltigte oder in ausserehelichen Beziehungen geschwängerte Frauen, wollten oder konnten die gesellschaftliche Schmach eines unehelichen Kindes nicht ertragen. Die Folgen spüren Arecchia und Tausende andere Kinder der Madonna bis heute.

Im Annunziata-Krankenhaus in Neapel brachten Mütter aus ganz Süditalien ihre Säuglinge anonym zur Welt.

In Deutschland wurde versucht, die Frage mit einem seit Mai 2014 geltenden Gesetz zu lösen, das Müttern die Möglichkeit einer «vertraulichen» Geburt gibt. Wenn die Mutter einverstanden ist, können Kinder künftig mit 16 Jahren die Identität der Mutter erfahren. In der Schweiz haben Adoptivkinder heute ein absolutes Recht, ihre Abstammung zu erfahren. Wer sein Kind zur Adoption freigegeben hat, kann mit dem Einverständnis des Kindes mit diesem in Kontakt treten. Die Frage nach dem Recht auf Kenntnis der Abstammung ist auch bei Samenspenden relevant und könnte in Zukunft immer wichtiger werden.

In Italien gilt immer noch die absurde 100-Jahre-Regel. «Das ist der Versuch einer immer noch katholisch geprägten Gesellschaft, das Bild einer heilen, aber in Wahrheit viel komplizierteren Welt auf Kosten der Adoptivkinder aufrecht zu erhalten», sagt Maria Virginia Volpe, die ebenfalls als Kleinkind adoptiert und nie darüber aufgeklärt wurde.

Das Bedürfnis von adoptierten Kindern nach Klarheit über die eigenen Ursprünge ist essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung. Arecchia engagierte deshalb Privatdetektive, ihre Freundinnen recherchierten in Archiven. «Wir sind schlimmer als der Geheimdienst», sagt Arecchia. Heute gibt es etwa 400’000 Adoptivkinder in Italien, zahlreiche aus jüngeren Generationen. Besonders viele Frauen zwischen 50 und 60 aus dem Raum Neapel sind bis heute auf der Suche nach der Identität ihrer leiblichen Eltern. Das liegt an den Tausenden anonymer Geburten im Annunziata-Krankenhaus Neapel. Mütter aus ganz Süditalien brachten hier ihre Säuglinge zur Welt.

Das ganze Dorf wusste Bescheid

Erst vor rund zehn Jahren lernte Arecchia Leidensgenossen in einem Internet-Forum kennen. «Mir wurde gesagt, meine leibliche Mutter habe mich nicht gewollt», erzählt Maria Virginia Volpe, heute 61 Jahre alt. «Als ich vor sieben Jahren endlich den Mut fand nachzuforschen, entdeckte ich, dass meine Mutter, die sich in einen verheirateten Professor verliebt hatte und von ihm schwanger wurde, einen wunderbaren Brief hinterlassen und versucht hatte, mich zurückzuholen. Man sagte ihr, ich sei von amerikanischen Bauern adoptiert worden, dabei war ich bei einem Ehepaar in Neapel.»

Während viele unter dem Schutz der Anonymität geborene Adoptivkinder nie Klarheit erhalten, kam Anna Arecchia ans Ziel, zur Hälfte wenigstens. Ihre Mutter Antonietta war mit 21 von einem verheirateten Mann schwanger geworden und liess Anna im Annunziata-Krankenhaus zurück. Mit 56 Jahren starb sie in Kanada.

Ihren Vater aber lernte Arecchia kennen. Er lebte in einem Dorf nicht weit von Caserta. «Als ich ihn vor wenigen Jahren anrief, war er sehr aufgeregt. Er sagte: Gib mir zwei Wochen Zeit, damit ich es meinen Kindern erklären kann.» Sie lernten sich kennen, das Verhältnis sei gut gewesen. Dann starb der Vater. Nur eines will ihr bis heute nicht in den Kopf: Das ganze Dorf habe über ihre Herkunft Bescheid gewusst. «Nur ich selbst hatte nie ein Recht darauf, meine eigenen Ursprünge kennenzulernen.»



Die Töchter der Madonna: Anna Arecchia, Marta Mancusi und Maria Virginia Volpe (von l. nach r.)

Die Töchter der Madonna: Anna Arecchia, Marta Mancusi und Maria Virginia Volpe (von l. nach r.) (Bild: Max Intrisano)

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