Nach dem Scheitern ihrer Grossmachtträume in Nahost wendet sich die türkische Regierung wieder der EU zu. Europaminister Bozkir erklärt den EU-Beitritt zum «wichtigsten Modernisierungsprojekt seit Gründung der Republik». Aber die Politik Ankaras geht in die entgegengesetzte Richtung: Grundrechte und Freiheiten werden immer weiter eingeschränkt.
Ausgerechnet im hohen Norden, bei einem Besuch in der norwegischen Hauptstadt Oslo, wo die Sonne jetzt nur noch wenige Stunden am Tag scheint, ging dem türkischen Europaminister Volkan Bozkir am Donnerstag ein Licht auf: «Wir haben die europäischen Länder seit einiger Zeit vernachlässigt.» Das soll sich ändern. Bozkir plant eine Charme- und Reformoffensive, um die eingeschlafenen EU-Beitrittsverhandlungen zu beleben.
Lange ging die Türkei eigene Wege. Sie führten das Land nicht näher an die Europäische Union sondern von Europa weg. Noch vergangenes Jahr erklärte der damalige Europaminister Egemen Bagis, die Türkei brauche die EU gar nicht und werde ihr zurufen: «Junge, zieh Leine!» Und Yigit Bulut, Chefberater des damaligen Premiers Recep Tayyip Erdogan, verkündete, die EU sei «keine Option» mehr. Nur wenn sich die Türkei von Europa lossage, könne sie eine «globale Rolle» spielen.
Jetzt erklärt die Regierung in Ankara die europäische Perspektive der Türkei plötzlich zur Priorität. Der EU-Beitrittsprozess sei «das wichtigste Modernisierungsprojekt seit der Proklamation der Türkischen Republik», heisst es auf der Internetseite des Europaministeriums.
Kurswechsel als Konsequenz
Präsident Erdogan und Premierminister Ahmet Davutoglu ziehen mit dem Kurswechsel die Konsequenz aus ihrer gescheiterten Aussenpolitik. «Null Probleme mit den Nachbarn» lautete Davutoglus Devise. Aber «nur Probleme mit den Nachbarn» würde den heutigen Status besser beschreiben. Alte Probleme – mit Zypern, Griechenland und Armenien – bleiben ungelöst, neue sind hinzugekommen, mit Syrien, dem Irak, Ägypten, Israel und dem Iran. Erdogans Strategie, die Türkei zur regionalen Führungsmacht im Nahen Osten aufzubauen, ist gescheitert. Die türkische Diplomatie ist festgefahren im Treibsand der ethnischen und religiösen Konflikte der Region.
Seit sich die türkischen Grossmachtträume in Luft auflösen, hat eine Rückbesinnung auf Europa eingesetzt – nicht nur bei den Politikern, auch bei der Bevölkerung: In einer Umfrage sprachen sich jetzt 53 Prozent für den Beitritt zur EU aus, gegenüber 45 Prozent vor einem Jahr.
Im Wartezimmer der EU
Kein Land hat so lange im Wartezimmer Europas zugebracht wie die Türkei. Schon 1963 stellten die Europäer dem Land in einem Assoziierungsabkommen die spätere Aufnahme in Aussicht. Die Beitrittsverhandlungen begannen allerdings erst im Herbst 2005 – und wurden bereits im Dezember 2006 wegen des ungelösten Konflikts um Zypern, dessen Nordteil die Türkei militärisch besetzt hält, wieder eingefroren.
Mit Reformen und einer neuen Kommunikationsstrategie will Europaminister Bozkir den festgefahrenen Beitrittsprozess wieder flott machen. Nur: Die Politik Erdogans geht in die entgegengesetzte Richtung. Eben erst präsentierte die Regierungspartei auf Initiative des Präsidenten eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze: Die Vollmachten der Polizei werden erweitert, die Rechte Beschuldigter und ihrer Anwälte im Strafprozess weiter beschnitten. EU-Minister Bozkir will soziale Medien nutzen, um das Image seines Landes in Europa aufzupolieren. Doch Erdogan liess Twitter und YouTube sperren, bezeichnet diese Dienste als «schlimmste Bedrohung der Gesellschaft» und erklärt: «Ich bin gegen das Internet.»
Der jüngste Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Türkei, veröffentlicht vergangenen Monat, listet gravierende Demokratie-Defizite auf: Ernste Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung, Verstösse gegen die Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Mängel bei der Bekämpfung der Korruption, exzessive Gewalt gegen Demonstranten, Überwachung von Regierungskritikern – selten fiel ein Zeugnis so vernichtend aus.
EU-Erweiterungskommissar Stefan Fühle meint, gerade angesichts dieser Missstände müsse der Beitrittsprozess vorangetrieben werden, um Reformen anzustossen. So kann man argumentieren. Darauf hoffen auch viele bedrängte Bürgerrechtler in der Türkei. Andererseits hat sich die Türkei mit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen verpflichtet, Grundwerte wie Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung zu achten. Nähme die EU diese Verpflichtung ernst, müsste sie die Verhandlungen mit Ankara eigentlich suspendieren.