Die Türkei – nah und fern von Europa

Weil Angela Merkel ihr «freundliches Gesicht» wahren will, hat sie nun Tayyip Erdogan an der Backe. Dem türkischen Präsidenten kommt das sehr gelegen.

Turkish President Tayyip Erdogan (R) listens to German Chancellor Angela Merkel during their meeting in Istanbul, Turkey, October 18, 2015, in this handout courtesy of Bundesregierung. Germany is ready to help drive forward Turkey's European Union accession process, Merkel said on Sunday, extending support to Ankara in exchange for Turkish help in stemming the flow of refugees to Europe. REUTERS/Guido Bergmann/Bundesregierung/Handout via Reuters ATTENTION EDITORS - THIS PICTURE WAS PROVIDED BY A THIRD PARTY. REUTERS IS UNABLE TO INDEPENDENTLY VERIFY THE AUTHENTICITY, CONTENT, LOCATION OR DATE OF THIS IMAGE. FOR EDITORIAL USE ONLY. NOT FOR SALE FOR MARKETING OR ADVERTISING CAMPAIGNS. FOR EDITORIAL USE ONLY. NO RESALES. NO ARCHIVE. THIS PICTURE IS DISTRIBUTED EXACTLY AS RECEIVED BY REUTERS, AS A SERVICE TO CLIENTS.

(Bild: HANDOUT)

Weil Angela Merkel ihr «freundliches Gesicht» wahren will, hat sie nun Tayyip Erdogan an der Backe. Dem türkischen Präsidenten kommt das sehr gelegen.

Steif stehen die beiden Throne nebeneinander – ein «Mix aus Ali Babas Schatzhöhle und Gelsenkirchner Barock». So beschreibt Karen Krüger, Redaktorin im Feuilleton der FAZ, das inszenierte Bild von Merkel neben Erdogan auf den goldenen Armsesseln. «Das Blumengesteck mit den Fähnchen beider Länder unterstreicht dafür die neue Verbundenheit. Man würde sich nicht wundern, wenn als Nächster ein Standesbeamter die Szenerie beträte.»
(Hier gehts zum FAZ-Artikel)

Wem geben die jüngsten Entwicklungen in den europäisch-türkischen Beziehungen nun recht? Den Befürwortern oder den Gegnern einer Verbesserung des Verhältnisses? Nicht erstaunlich: Beide können sich bestätigt fühlen.

Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat am 18. Oktober mit ihrer Stippvisite, die bewusst nicht in der Hauptstadt der Türkei, sondern nur an den Bosporus führte, keine Beendigung, aber wenigstens einen Rückgang des Flüchtlingsstroms aus Syrien herbeizuführen versucht. Dies vor allem aus innenpolitischen Gründen. Das heisst, weil die Akzeptanz für ihre «Willkommenskultur» zunehmend schwindet. Merkels Popularitätswert ist in den letzten Tagen von 42 auf 36 Punkte gesunken – der tiefste Wert seit drei Jahren.

Plötzlich EU-Beitrittskandidat?

Was wurde im Istanbuler Yildiz-Palast auf den goldenen Stühlen besprochen? Die Kanzlerin kam vor allem mit zwei Versprechen. Dass sie die Türkei in der Forderung unterstützt, dass sich die EU mit 3 Milliarden Euro an der Unterbringung von Flüchtlingen beteiligt. Und dass sie sich generell ein wenig zur Anwältin der türkischen Wünsche bei den anderen EU-Staaten macht. Im Gegenzug erwartet Merkel, dass die Türkei die Meeresgrenze zu Griechenland dichter macht. Die Türkei selber hat bisher rund 7,5 Milliarden Euro für die Beherbergung von 2,5 Millionen Syrern aufgebracht.

Merkels Sonntags-Trip wurde in der Presse nicht als Sonntagsspaziergang, sondern als «wohl eine der schwierigsten Auslandsreisen» («Tages-Anzeiger») eingestuft. Früher hat sich die CDU-Chefin stets sehr kritisch einem allfälligen EU-Beitritt der Türkei gegenüber verhalten, beinahe mit Fundamentalwiderstand. Jetzt krebst sie zurück, bezeichnet die Verhandlungen nur noch als «ergebnisoffen». Und in einem nicht zu übersehenden Nebensatz geht sie gemäss Berichten sogar so weit zu erklären, dass es gute Gründe für eine engere Zusammenarbeit gebe, nicht nur jetzt in der Krise, «später auch in der Europäischen Union». Später?

Noch im März 2010 hatte sich die deutsche Bundeskanzlerin bei einem Staatsbesuch in Ankara explizit gegen den EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen und für eine «privilegierte Partnerschaft» plädiert. Und im September 2011 hatte sie beim Gegenbesuch des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül ihre Position bekräftigt: «Wir wollen die Vollmitgliedschaft der Türkei nicht. Aber wir wollen die Türkei als wichtiges Land nicht verlieren.»

Erdogans Interesse an einem EU-Beitritt ist geringer als auch schon. Sollte jedoch kein Beitritt zustande kommen, soll es so wirken, als läge es an der EU.

Auf das jetzt angekündete «Später» wird man in der Türkei noch warten müssen. Und es ist verständlich, wenn man auf türkischer Seite solchen Versprechungen nur bedingt Glauben schenkt, denn die Bereitschaft der europäischen Mächte, zur fernen Türkei Nähe herzustellen, hängt stets von momentanen Interessen ab. Als 1963 der bekannte Assoziationsvertrag von Ankara abgeschlossen und ein EG-Beitritt in Aussicht gestellt wurde, sah man in der Türkei, die seit 1952 Nato-Mitglied war, vor allem ein militärisches Glacis als Raketenbasis gegen die Sowjetunion – und darum einen wertvollen Partner.

Der herrische Herrscher Recep Tayyip Erdogan hat bisher auch nicht immer die gleiche Haltung zum EU-Beitritt eingenommen. Vor allem in den Anfängen seines Aufstiegs war er sehr für einen Mitgliedschaftskurs, weil er sich davon auch eine Stärkung seiner Bewegung und seiner eigenen Position versprach. In jüngerer Zeit ist sein Interesse an einer Mitgliedschaft jedoch geringer geworden, zumal von Seiten der EU immer wieder deutliche Worte gegen seine undemokratische Machtpolitik im eigenen Lande zu hören waren. Jetzt ist ihm wichtig, die Dinge so zu arrangieren, dass die EU für ein allfälliges Nichtzustandekommen eines Beitritts verantwortlich erscheint.

Immer wieder Gräben

Die institutionelle Annäherung kam erst zu Beginn dieses Jahrhunderts und nur in mühseligen kleinen Schritten voran: Im Dezember 1999 erhielt die Türkei den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten. Verhandlungen wurden aber erst im Oktober 2005 aufgenommen: Und von den 35 Verhandlungskapiteln, die auf dem Weg zu einem Beitritt abzuarbeiten sind, ist erst ein einziges abgeschlossen (Wissenschaft und Forschung). Zahlreiche andere sind suspendiert.

Dazwischen blockierte die französische Regierung die Weiterführung von Verhandlungen. Und im Juni 2013 lehnten die Niederlande, Österreich und Deutschland wegen des gewaltsamen Vorgehens gegen Protestierende (Stichwort: Gezi-Bewegung) das Öffnen eines neuen Verhandlungskapitels ab, was ein temporäres Aussetzen der Beitrittsgespräche zur Folge hatte. Der CDU/CSU-Bundestagsvorsitzende Volker Kauder erklärte damals, die Repressionspolitik würde die Türkei «um Lichtjahre von Europa entfernen».

Der Europarat anerkannte, dass das Land im Kampf gegen Folter und Misshandlung wichtige Fortschritte gemacht habe. Dennoch wurde die Türkei auch von dieser Seite im November 2013 vom Menschenrechtskommissar Nils Muiznieks gerügt, weil das harte Vorgehen gegen die landesweite Protesten erneut einen «ungenügenden Respekt für verpflichtende Menschenrechtsstandards» bei der Polizei gezeigt habe.

Seit 2004 – und 2013 erneut bestätigt – steht die Türkei unter Sonderbeobachtung Europas. Inhaftierte Journalisten und Künstler, Diskriminierung der Kurden und religiöser Minderheiten gehören zu den Kritikpunkten. Es gab aber auch positive Entwicklungen: Mit der Einschränkung der Macht der Militärs kam die türkische Regierung einer Hauptforderung der EU nach. Weitere Reformschritte wurden 2010 durch weitreichende Verfassungsänderungen eingeleitet.

Erdogan genügen Merkels Angebote der letzten Tage nicht. Er will mehr.

Vor Kurzem meldete sich der Europarat wieder und zeigte sich tief besorgt über die Eskalation des Kurdenkonflikts und die Infragestellung der Demokratie in dem Land. Generalsekretär Thorbjörn Jagland erklärte am 7. Oktober 2015, er verurteile natürlich die tödlichen Attacken auf türkische Sicherheitskräfte mit Nachdruck, er sei zugleich aber alarmiert über «die Angriffe auf politische Parteien und Medien, die die Demokratie zu destabilisieren drohen». Er rief Regierung und Behörden auf, «alles zu tun, um die Bürger und das demokratische Leben im Land zu schützen».

In der Nacht zum 7. Oktober eskalierten die Spannungen landesweit in der Bevölkerung. Dutzende Büros der prokurdischen Partei der Demokratie der Völker (HDP) wurden attackiert, auch die Redaktion der Zeitung «Hürriyet» in Istanbul wurde von Erdogan-Anhängern malträtiert, weil sich diese offenbar eine (zu) kritische Berichterstattung über den Staatspräsidenten gestattet hatte.

Staatspräsident Erdogan genügen Merkels Angebote der letzten Tage nicht. Er will mehr. Er will für seine Bürger Visafreiheit, zugleich will er aber sein Land als sicheres Herkunftsland eingestuft haben. Das hätte zur Folge, dass verfolgte Oppositionelle in der EU keine Aufnahme mehr fänden. Weiter wünscht er, dass die Verhandlungen zu sechs Beitrittskapiteln wiederaufgenommen werden. Und dass der noch vor den Wahlen vom 1. November fällige «Fortschrittsbericht» verschoben wird, der insbesondere wegen weitgehender Aufhebung der Pressefreiheit zu Recht kritisch ausfallen wird.

Keine billigen Konzessionen

Bekanntlich lässt Erdogan die Wahlen wiederholen, weil seine AKP im Juni die absolute Mehrheit verloren hat und die parlamentarische Vertretung der Kurden, die HDP, mit 13 Prozent ins Parlament einziehen konnte. Es ist nachvollziehbar, dass Deutschtürken wie Cem Özdemir ihrer Kanzlerin vorwerfen, mit dem Treffen am Bosporus den autoritären Herrscher in dessen Wahlkampf indirekt unterstützt zu haben. Für ein Treffen mit der Opposition gab es bei Merkels Kurzbesuch keinen Platz. Gerade der Urnengang vom 1. November veranlasst das Regime Erdogan, die Einschüchterungs- und, falls diese nicht wirkt, die Repressionspolitik massiv zu verstärken.

Die Veränderungen der letzten zehn Jahre zeigen, dass Entwicklung – auch in der Türkei und gerade in der Türkei – kein fortschrittlicher Einbahnprozess ist und die politische Distanz der fernen und zugleich nahen Türkei zur EU auch wieder grösser werden kann, als er schon gewesen ist. Doch auch das kann sich wieder ändern. Nähe sollte aber nicht durch billige Konzessionen von europäischer Seite herbeigeführt werden.

Joschka Fischer hielt vor Jahren in seiner Funktion als damaliger deutscher Aussenminister den Fundamentalgegnern eines Türkeibeitritts entgegen, dass es auf die Erfüllung der Beitrittskriterien ankomme, neben den wirtschaftlichen Kriterien insbesondere auf die Gegebenheit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Sei sie vorhanden, dann sei der Beitritt unproblematisch; sei sie nicht gegeben, dann komme es eben nicht zu einem Beitritt.

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