Die unerträgliche Ungewissheit der Hinterbliebenen

Weltweit gelten Hunderttausende Menschen als verschwunden. Die Welt gedenkt ihrer jährlich am 30. August. Warum das wichtig ist, zeigen die Geschichten von Soledad und Francis. Beide leiden seit Jahren an quälender Ungewissheit.

Weltweit gelten Hunderttausende Menschen als verschwunden. Die Welt gedenkt ihrer jährlich am 30. August. Warum das wichtig ist, zeigen die Geschichten von Soledad und Francis. Beide leiden seit Jahren an quälender Ungewissheit.

Soledad leidet seit fünf Jahren. Jeden Tag. Ihr Bruder ist 2008 auf seiner Reise von Mexiko in die USA verschwunden. Spurlos. Seither ist Soledad auf der Suche nach ihm. An manchen Tagen ist sie überzeugt, dass er noch lebt, an anderen überwiegen die Zweifel daran. Eine quälende Ungewissheit, die auch Francis nur zu gut kennt.

Sein Sohn ist in Uganda von einer bewaffneten Gruppe entführt worden, wahrscheinlich von der Lord Resistance Army. Der Vater vermisst ihn sehr und hat nun niemanden mehr, der sich um ihn kümmert. Zwei unterschiedliche Fälle, die eine Gemeinsamkeit haben: das Leiden der Angehörigen. «Es ist dasselbe», sagt Katja Gysin, «egal, ob jemand in einem Krieg, während der Flucht, im Rahmen der Migration oder bei einer Katastrophe verschwindet.»

Gysin weiss, wovon sie spricht. Sie ist Beraterin für Familien von Verschwundenen beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und sieht täglich das Leiden der Hinterbliebenen. Was die betroffenen Familien vor allem brauchen, sind Antworten darauf, was genau geschah, das zum Verschwinden eines Angehörigen führte, sagt Gysin. Viele sagen: «Ich will ihn zurück haben, egal, ob er lebt oder tot ist.»

 

Die Suche nach einem Strohhalm

Antworten zu erhalten, ist aber oft sehr schwierig. Wenn jemand im Mittelmeer ertrinkt, wird es für seine Familie kaum je einen definitiven Bescheid geben. Und wenn Menschen auf der Flucht oder in einem Krieg den Kontakt zu ihren Angehörigen verlieren, wird eine Suche erschwert, weil sie in mehreren Ländern vorgenommen werden muss.

Die quälende Ungewissheit zu beenden bedingt zunächst, sich mit unter Umständen noch quälenderen Details zu beschäftigen. «Es ist zentral, Informationen darüber zu sammeln, wie und wo eine Person verschwand», betont Gysin. Denn das könne zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Aufklärung führen. Dafür ist eine Dokumentation nötig, es müssen Zeugen gefunden werden, welche die verschwundene Person noch gesehen haben. Manchmal geben Polizei- oder Armeearchive Aufschluss oder teure DNA-Tests von Toten in Massengräbern.

 

Je länger mit dem Sammeln von Informationen zugewartet wird – das ist vor allem in Kriegen der Fall – desto schwieriger ist es allerdings, Spuren zu finden. Und nach einem Krieg sind für eine Regierung Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholung oft wichtiger als die Suche nach Vermissten.

Wie viele Menschen weltweit spurlos verschwunden sind und vermisst werden, darüber gibt es keine genauen Zahlen – es könnten aber Millionen sein.

Wer über Informationen verfügt, war zudem meist in das Verschwindenlassen von Personen verwickelt und hat kein Interesse an einer Aufklärung. Weltweit gelten Hunderttausende, wenn nicht einige Millionen Menschen als verschwunden. Genaue Zahlen existieren nicht und sie hängen auch davon ab, wie weit man in die Vergangenheit zurückgeht. Heute sind allein beim IKRK mehr als 50’000 Anfragen zu Vermissten aus mehreren Dutzend Ländern offen. «Das ist aber nur die Spitze des Eisberges», sagt Gysin.

Viele Familien leiden emotional, isolieren sich und sprechen wenig über ihre vermissten Angehörigen. Das IKRK bemüht sich, sie dabei zu unterstützen, besser mit der Ungewissheit leben zu können. «Wir begleiten Familien in Selbsthilfegruppen, bei denen sie sich gegenseitig austauschen können», sagt Gysin. Zugleich bilden solche Selbsthilfegruppen eine Struktur für ein gemeinsames Vorgehen mehrerer Familien bei der Suche, etwa indem sie sich einen Anwalt nehmen oder sich gemeinsam an die Behörden wenden.




Gemeinsam gegen die quälende Ungewissheit: Ein Treffen einer Selbsthelfegruppe in Uganda unter Anleitung eines IKRK-Mitarbeiters.

Auch das IKRK ist im Dialog mit Regierungen und erinnert sie daran, dass sie nicht nur verpflichtet sind, ihre Bürger vor dem Verschwinden zu schützen, sondern auch, nach Vermissten zu suchen. Ähnliche Botschaften vermittelt die humanitäre Organisation zudem nichtstaatlichen Akteuren, die ein bestimmtes Gebiet kontrollieren. Einige Staaten wie etwa Kolumbien sammeln und dokumentieren selbst Informationen über den Verbleib von Verschwundenen.

Ein blockiertes Leben – wirtschaftlich und emotional

Das Leben der Familien von Verschwundenen wird meist ganz konkret blockiert: Sie können in wirtschaftliche Schwierigkeiten schlittern, weil das Einkommen des Vermissten fehlt. In vielen Fällen wollen sie eine vermisste Person nicht für tot erklären und haben daher keinen Zugang zu dessen Bankkonto oder können Verträge nicht auflösen.

Um das Leben von Angehörigen zu erleichtern, erarbeitete das IKRK ein Modellgesetz zuhanden von Regierungen und Parlamenten. «Wenn keine Todesurkunde besteht, können die Behörden etwa eine Abwesenheits-Urkunde ausstellen, die der Familie dieselben Rechte gibt», erläutert Gysin. Aber das Ziel geht über administrative Hilfe hinaus – zum Beispiel der Möglichkeit, der Verschwundenen zu gedenken: Da es keine Gräber von Vermissten gibt, ist der Welttag der Verschwundenen am 30. August für die Angehörigen eine Gelegenheit, an ihre Lieben zu denken, um sie zu trauern und auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Aus diesem Anlass organisiert das IKRK mit betroffenen Familien Trauerfeiern, bei denen Bäume gepflanzt werden wie in Aserbaidschan oder mit Blumen geschmückte kleine Boote auf eine Reise geschickt werden wie in Papua-Neuguinea.

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