Die Unmöglichkeit des Möglichen in Katalonien

Recht oder Demokratie? Wenn die spanische Regierung nur eine Politik der harten Hand kennt, wird sie immer mehr Katalanen ins Lager der Unabhängigkeitsbefürworter treiben.

Die schweigende Mehrheit? Jedenfalls demonstrieren die Autonomiegegner genauso friedlich wie die Befürworter. (Bild: Reuters)

I
Es handelte sich erst einmal nur um Wahrscheinliches. Um das, was möglich wäre, wenn eine offene Diskussion über Weiterentwicklungen der Demokratie im eben begonnen Zeitalter der Digitalisierung des Alltags und der Unmittelbarkeit individuell zugänglicher Informationen ernst genommen würden.

Dieses Wahrscheinliche ist in Katalonien offensichtlich erst einmal gescheitert. Dieses alte europäische Land wird kein unabhängiger, souveräner, demokratischer und sozialer Staat.

Die Resolution der Mehrheit des katalanischen Parlaments, am 27. Oktober verabschiedet, beinhaltet zwar diese vier Grundlagen: unabhängig, souverän, demokratisch und sozial.

Nur: Es blieb – vorerst – bloss ein Augenblick der Utopie-Realisierung.

II

Nun greift die spanische Zentralregierung in Katalonien durch. Der Senat, die zweite Kammer der Cortes, hat am letzten Freitag, dem 27. Oktober 2017, Minuten nach der Verabschiedung der Resolution zur Unabhängigkeit im katalanischen Parlament, mit 214 gegen 47 Stimmen und bei einer Enthaltung den Anwendungsbeschlüssen der Regierung Rajoy für die Inkraftsetzung des Notstandsartikels 155 der spanischen Verfassung über die autonome Region Katalonien zugestimmt. Bis jetzt spürt man als Einwohner Barcelonas von diesem Regierungswechsel nichts. Der Samstag wirkte hier so, als ob in der Stadt ein verordneter Ruhetag eingehalten würde.

Einerseits verkündet das spanische Amtsblatt Punkt für Punkt, wie die spanische Zentralregierung Katalonien regieren wird: Es sind die Minister von Rajoy, welche die ihren Ministerien entsprechenden Departemente der Regionalregierung, der Generalitat, und damit die Positionen der katalanischen Regierungsräte übernehmen. Die Exekutivmitglieder heissen in Katalonien Consellers und Conselleras del Govern, also «Räte und Rätinnen» der Regierung. Die Position der Präsidentschaft der katalanischen Generalitat übernimmt die Vize-Präsidentin der spanischen Regierung, Soraya Sáenz de Santamaría.

Die grosse Entlassungswelle

Abgesetzt werden alle Consellers und Conselleras del Govern der Generalitat. Praktisch abgesetzt ist durch die Anwendungsbeschlüsse zum § 155 auch die Präsidentin des katalanischen Parlaments.

Angekündigt wurde bisher die Entlassung zahlreicher Chefbeamter der Regionalregierung, die Entlassung der bisherigen Leitung der katalanischen Polizei, der Mossos d’Esquadra, die Schliessung der katalanischen Vertretungen in Brüssel, in Berlin, in Paris und in New York. Der offizielle Vertreter der Generalitat in Madrid wird ebenfalls entlassen (jede der 17 autonomen Regionen in Spanien entsendet einen Vertreter nach Madrid, und umgekehrt sendet Madrid in jede Region einen offiziellen Vertreter).

Entlassen werden die Mitarbeiter Puigdemonts und von Junqueras, dem Vizepräsidenten der Generalitat. Deren Büros werden «übernommen».

Übernommen wird die gesamte Infrastruktur der katalanischen Verwaltung, insbesondere die Datenverarbeitung und die digitalen Lenkungseinrichtungen. «Übernommen» heisst, dass deren Leitungen von Spezialisten der Zentralregierung übernommen werden. Wer das ist? Solche Spezialisten sind nicht einfach «vorhanden». Aber darauf gibt es bisher keine Auskunft von Seiten der Regierung Rajoy.

Wie sollen diese Übernahmen gestaltet werden, wenn die Generalitat sie einfach nicht zur Kenntnis nimmt?

Die Finanzen gehen vollständig auf Madrid über. Sie können vom demokratisch gewählten katalanischen Parlament nicht mehr verteilt, zugeordnet oder kontrolliert werden. Nun, all dies und einiges mehr ist bis jetzt offiziell (im Amtsblatt der Zentralregierung) seit Samstag, 28. Oktober 2017, 06.00 Uhr angekündigt.

Die Büros sind allerdings noch nicht «übernommen» worden. Wie sollen diese Übernahmen gestaltet werden, wenn die Generalitat sie einfach nicht zur Kenntnis nimmt? Wird dann die Guardia Civil tätig? Werden dann die bislang bloss als Befürchtung oder je nach Standort der Betrachtung  als Drohung im Raum stehenden Verhaftungen wegen «Aufruhr», wegen «Ungehorsam» und dergleichen mehr durchgeführt? Von wem?

Angekündigt hat Rajoy die Auflösung des katalanischen Parlaments und dessen Neuwahl am 21. Dezember 2017. Diese Ankündigung mit dem überraschend frühen Datum der Neuwahlen erzeugt für die Parteien, welche die Unabhängigkeit als beschlossene Grundsatzentscheidung verstehen, ein Dilemma. Es geht dabei um jene Parteien, die sich vor den Wahlen 2015 zur Gruppierung «Junts pel si» (deutsch: Gemeinsam für ein Ja) zusammengeschlossen hatten: die bürgerlichen PDeCAT, die linksrepublikanische ERC, und die antikapitalistische und etwas anarchistisch ausgerichtete CUP.

Eine Wahl, die nichts ändern würde

Sollen sie an diesen von Rajoy angeordneten Wahlen teilnehmen? Was auch bedeuten würde, dass sie damit mehr oder weniger stillschweigend die Auflösung des Parlaments, ebenfalls von Rajoy angeordnet und nicht nach den Regeln der katalanischen Autonomie erfolgt, anerkennen. Eine Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme muss in den nächsten Tagen gefällt werden, weil Kandidatenlisten demokratisch zusammengestellt werden und die Anmeldung der Listen bei der katalanischen Wahlbehörde, welche Rajoy nicht abgesetzt hat, nach den katalanischen Wahlgesetz-Bestimmungen erfolgen müssen.

Eine Teilnahme der genannten Parteien, in welcher Form von Gemeinsamkeit auch immer, würde laut neuesten Umfragen dazu führen, dass die Wahlen zu einem regelrechten Hornberger Schiessen würden. Das heisst: Die bisherige Mehrheit würde leicht gestärkt. Die stärkste pro-spanische Kraft, die Ciudadanos, würde etwa gleich stark bleiben wie bisher. Die Sozialisten würden leicht gewinnen, die PP leicht verlieren. Am Verhältnis von  Unabhängigkeitsbefürwortern und -gegnern andererseits würde sich wohl nichts ändern. (Quelle: El Periodico)

«El Mundo» hat am 28. Oktober eine Umfrage veröffentlicht, wonach die Gegner einer autonomen Republik Katalonien einen knappen Vorsprung vor den Befürwortern hätten. Allerdings hat das Lager der Republikgegner in dieser Umfrage auch keine Mehrheit, weil die Comuns (die Partei, der beispielsweise die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, angehört) und Podem im Wahlbündnis ihre Mandatszahl gegenüber den Wahlen 2015 erneut stark steigern würden. Dass die Comuns mit Ciudadanos und PP eine Koalition eingehen würde, ist undenkbar. (Quelle: El Mundo)

Nun: Solcherlei Prognostik wird sich nun häufen, man kennt das. Wie diese Wahlen effektiv ausgehen werden, weiss niemand vor dem Abend des 21. Dezember 2017.

Erzwungene Neuwahlen könnten dazu führen, dass Katalonien innerhalb weniger Jahre tatsächlich unabhängig würde.

Wenn die Parteien, welche die unabhängige Republik Katalonien beschlossen haben, an diesen Wahlen nicht teilnehmen würden, liefe es wohl auf eine katalanische Regierung heraus, welche nur aufgrund schwacher Wahlbeteiligung zu Stande käme. Es gibt die (journalistische) Vermutung, dass in diesem Fall die aggressiv mit einem bei Rechtspopulisten abgeguckten Wortradikalismus auftretende Fraktionsvorsitzende der Ciudadanos im katalanischen Parlament, Inés Arrimadas, Präsidentin der Generalitat werden könnte.

Fest steht solcherlei allerdings nicht. Denn die Ciudadanos vertreten eine extrem neoliberale und antisoziale Politik, welcher etwa die PSC (die katalanischen Sozialdemokraten) niemals zustimmen könnte. Es käme dann wohl zu einer Art Minderheitsregierung von Ciudadanos und PP. Es gibt Kreise innerhalb der Republikbefürworter, die postulieren, dass solcherlei Wahlausgänge unweigerlich innerhalb weniger Jahre zur tatsächlichen Unabhängigkeit Kataloniens führen würden. Deshalb dürfe man an den «Rajoy»-Wahlen auf keinen Fall teilnehmen. Vor allem in der CUP scheint diese Betrachtungsweise Oberhand zu haben.

Vor Ende dieser Woche wird es bezüglich der teilnehmenden Parteien an den Wahlen vom 21. Dezember 2017 kaum endgültige Klarheit geben.  Man kann heute Sonntag, dem 29. Oktober, an dem ich diesen Text schreibe, berichten, was wichtige Exponenten der katalanischen Politik zu diesem Dilemma der Republikbefürworter sagen.

«Staatsstreich gegen Katalonien»

In diesem Zusammenhang hat sich der Vorsitzende der ERC und Vizepräsident der Generalitat, Oriol Junqueras auf Seiten der Republikaner über die Situation am detailliertesten geäussert. Zitate aus «La Vanguardia online» vom 29.10.2017 (Übersetzung und Klammerbemerkungen vom Autoren) :

Oriol Junqueras, der Vorsitzende von Esquerra Republicana (ERC), warnte davor, dass die Regierung (gemeint ist die Regierung von Präsident Puigdemont) in den kommenden Tagen «Entscheidungen treffen» muss und dass «sie nicht immer leicht zu verstehen sind». Sie (die Regierung) erkennt an, dass es «Momente der Unsicherheit, Zweifel oder Widersprüche» geben wird zwischen dem, was sie erreichen will,  und dem Weg dorthin.

Und:

Oriol Junqueras erkennt das Eingreifen der Regierung von Mariano Rajoy durch Artikel 155 nicht an. Er bezeichnet es als Staatsstreich gegen Katalonien. (…) Der Präsident des Landes ist und bleibt Carles Puigdemont und die Präsidentin des Parlaments ist und bleibt Carme Forcadell, zumindest bis zu dem Tag, an dem die Bürger bei einer freien Wahl anders entscheiden.

Schliesslich:

Wenn wir die bürgerliche und friedliche Haltung, die wir immer beachten, nicht verlassen, werden wir in der Lage sein, so weit voranzuschreiten, wie wir es vorschlagen.

Nach mehreren Grossdemonstrationen der Unabhängigkeitsbefürworter in Barcelona, die letzten,  mit über 450’000 Beteiligten am Samstag, dem 21. Oktober und jene am 27. Oktober rund um den Ciutadellapark, wo Zehntausende die Übertragung der Parlamentssitzung durch den Sender TV3 bis zur Verabschiedung der Resolution über die Unabhängigkeitserklärung verfolgten, fand am 29. Oktober eine Demonstration der Unabhängigkeitsgegner statt, an der laut Polizeiangaben etwa 300’000 Menschen teilgenommen haben, nach Angaben der Veranstalter über eine Million.

Die Kontrahenten bewegen sich mit ihren Propaganda-Sätzen im Bereich der Spekulation.

Diese «über eine Million» allerdings ist eine massive Übertreibung, die man in Barcelona, wo regelmässig Grossdemonstrationen stattfinden, sofort erkennt. Dieses Erkennen ist nicht besonders schwierig, weil die meisten dieser Demonstrationen auf der Passeig de Gracia, von der Kreuzung Gran Via weg aufwärts, stattfinden. Und wenn man die Demonstration am Sonntag mit jener nach dem Terrorakt im August mit etwa einer halben Million Teilnehmenden vergleicht, dann erscheint die Million vom Sonntag übertrieben.

Unwichtig?

Ja. Einerseits. Es ist klar, dass auch 300’000 Demonstrierende eine sozial, politisch, gesellschaftlich wirklich bedeutende Manifestation veranstalten.

Aber: Die Unabhängigkeitsgegner operieren seit Jahren mit dem Begriff «schweigende Mehrheit». Gleichzeitig aber unternehmen die politischen Kreise, welche die Autonomie Kataloniens innerhalb Spaniens am liebsten abschaffen würden, alles, um ein Referendum genau über diese Frage in Katalonien zu verhindern. Sie behaupten ohne Unterlass, dass die Mehrheit der Einwohner Kataloniens von der Unabhängigkeit nichts wissen wolle. Im Vorfeld der Demonstration am Sonntag behaupteten die Veranstalter, dass eine Million Menschen teilnehmen würden und damit die schweigende Mehrheit eine sprechende und klar ausgewiesene Mehrheit sei.

Zurück zur Legalität

Das ist alles ein wenig zu «ungefähr», um eine «sichere Mehrheit» gegen eine Republik Katalonien erkennen zu können. Es gibt  umgekehrt auch keine «sichere Mehrheit» für eine Republik Katalonien. Die Kontrahenten bewegen sich mit ihren Propaganda-Sätzen diesbezüglich im Bereich der Spekulation.

Die Gegner der Unabhängigkeitserklärung sagen, dass die Generalitat und die Mehrheit des katalanischen Parlaments verfassungswidrig und aufrührerisch gegen den spanischen  Rechtsstaat gehandelt haben. Die Regierung Rajoy habe – mit Unterstützung der oppositionellen PSOE und der Ciudadanos (welche die Regierung Rajoy unterstützt, aber nicht in der Regierung mitmacht) – mit den Anwendungsbeschlüssen des Notstandsparagraphen 155 der spanischen Verfassung den Weg zurück zur Legalität und damit zur wirklichen Autonomie Kataloniens innerhalb Spaniens begonnen.

III

Trotz des innert kürzester Zeit gewaltig angeschwollenen Medienhypes ist zur Zeit in der Katalonien-Krise so ziemlich alles unklar. Was ist, wenn die Abgesetzten ihre Absetzung einfach ignorieren? Was, wenn die von Rajoy abgesetzten katalanischen Repräsentanten die Rechtmässigkeit des nun aktivierten § 155 vor Gericht bringen? Gerade diesbezüglich stehen die angeblich rechtsstaatlich und durch die Verfassung gedeckten Beschlüsse des Sentas gegen die Autonomie in Katalonien keineswegs in einem abschliessend geklärten Rechtsraum:

Das Verfassungsgericht hat bereits mit der Untersuchung der Massnahmen begonnen, die die Regierung dem Senat vorgeschlagen hat, um gemäss Artikel 155 der Verfassung in die Autonomie Kataloniens einzugreifen. Diese Aufgabe wurde informell initiiert, weil noch keine Klagen auf dem Tisch liegen. Aber sie werden kommen. Die Generalitat und Podemos haben sie bereits angekündigt. Und in den Debatten, die geführt werden müssen, besteht der allgemeine Eindruck, dass einige der vorgeschlagenen Massnahmen sehr schwerwiegend sind und gründlich analysiert werden müssen, damit sie die entsprechende Bestätigung bekommen können. Es gibt Zweifel und Vorbehalte, ob der Artikel 155 so weit ausgedehnt werden darf, wie es die Regierung am letzten Samstag mit ihren Entscheidungen getan hat.

(La Vanguardia, 25.10.2017, online, Übersetzung vom Autoren)

Und:

Der TC (Verfassungsgericht) betont, dass das erste zu analysierende Kriterium darin bestehe, ob diese besondere Anwendung von Artikel 155 der Verfassung verhältnismässig sei. Er versucht, das von der Regierung vorgeschlagene Mittel gegen das aus Katalonien aufgeworfene Bruchprojekt (Referendum) in einem weiten Zusammenhang zu prüfen.War es notwendig, es so zu stoppen? Gab es Alternativen im aktuellen Verfassungsrahmen? Diese Fragen werden von den Magistraten heute in einer Art vorweggenommener Beratung gestellt, und zwar in einer Atmosphäre, die für die Wirksamkeit der verabschiedeten Massnahmen von großer Bedeutung ist, da im TC die Befürchtung besteht, dass sie eine mehr oder weniger breite Ablehnung haben werden und oder kaum mehr wahrgenommen oder in die Beschlüsse implementiert werden könnten.

( La Vanguardia, 25.10.2017, online. Übersetzung vom Autoren).

Des Weiteren:

Was geschieht, wenn Puigdemont, Junqueras und die Consellers und Conselleras verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt würden? Was, wenn Puigdemont aus Spanien flieht, wenn Exponenten der Unabhängigkeitsbewegung eines der Angebote für ein Exil, die in Belgien oder aus Languedoc-Roussillon in Frankreich ausdrücklich offiziell bestehen, wahrnehmen würden?

Die Verhaftung und nunmehr bereits zwei Wochen andauernde Untersuchungshaft von Jordi Sanchez und Jordi Cuixart unter Zuhilfenahme von Begriffen wie «Ungehorsam gegenüber der Polizei», «aufrührerisches Verhalten»  und «Rebellion» weist auf Teile des spanischen Strafgesetzbuches hin, welche man als politische Justiz bezeichnen muss, sollten diese Straftatbestände den Aufruf zu einer Demonstration meinen.

Vorgefertigte Verhaftungsgründe

Grund für die Untersuchungshaft der beiden war eine Demonstration von schliesslich etwa 40’000 Menschen gegen die Verhaftungsaktion im Haus des Departements für Wirtschaft von Staatsanwaltschaft und der Guardia Civil, der ein Einzelrichter zugestimmt hatte. 14 Beamte dieses Departements, welche unter anderem mit der Vorbereitung des Referendums beauftragt waren, wurden verhaftet. Auch hier spielten  Begriffe wie «Rebellion», aber auch «Untreue» sowie «Ungehorsam» die Rolle von staatsanwaltschaftlich vorgefertigten Verhaftungsgründen. Die Agenten der Guardia Civil konnten das Haus mit ihren Gefangenen wegen den zahlreichen Demonstranten in der engen Carrer Balmes stundenlang nicht verlassen.

Die beiden Jordis waren – nebst anderen – Organisatoren dieser Demonstration. Die Demonstranten verhielten sich absolut friedlich. Viele Jugendliche sassen auf der Strasse, sangen, assen aus ihren Lunchpaketen. Das alles weiss ich so genau, weil ich per Zufall am 20. September 2017 in diese Demonstration zwischen dem Haus des katalanischen Wirtschaftsdepartments an der Carrer  Balmes und der Gran Via hineingeraten bin.

Die Vorwürfe gegen die beiden Jordis wären für die Justiz einer Willkürherrschaft allenfalls nachvollziehbar, aber sicher nicht für einen demokratisch verfassten Rechtsstaat. Alle verhafteten Beamten wurden im übrigen durch Kurzgerichtsverfahren gleichentags und oder am nächsten Tag aus der Haft entlassen. Was deutlich auf die Qualität der staatsanwaltschaftlichen Arbeit verweist.

Die Vorgehensweise sowohl des spanischen Innenministers wie der Befehlsausgeber für die Guardia Civil und die Nationalpolizei als auch das Konstrukt, wonach bei solch eindeutig «politischen» Verfahren Einzelrichter der höchsten und damit der letzten innerspanischen gerichtlichen Instanz das erste und gleichzeitig das letzte Wort haben, das heisst, dass es keine Überprüfungsinstanz gibt, welche die Anordnung von Untersuchungshaft untersucht, erinnern an die Machenschaften von Erdogan.

IV

Recht oder Demokratie?

Diese Fragestellung beherrscht den Zustand, in den Spanien und die Region Katalonien geraten sind. Rajoy und mit ihm die spanischen Sozialisten und die Rechtsliberalen behaupten, die katalanische Regierung und das katalanische Parlament hätten fortgesetzt und geplant Verfassungsbruch begangen und illegale Mittel zur Durchsetzung einer rebellischen, aufrührerischen Politik eingesetzt. Die Anwendung des Verfassungsartikels 155 sei ohne Alternative, um die Legalität in Katalonien wiederherzustellen.

Die Generalitat, die Mehrheit des Parlaments, auf die sich die Regierung von Präsident Puigdemont stützt, aber auch mitgliederstarke Zivilorganisationen wie die «Asamblea Nacional Catalana» (ANC) oder die «Omnium Cultural» sehen im Verfassungsgerichtsurteil von 2010, von einem nicht verfassungskonform zusammengesetzten Verfassungsgericht gegen das Autonomiestatut für Katalonien von 2006 (angenommen durch beide Kammern der Cortes, durch das katalanische Parlament und durch ein Referendum der katalanischen Stimmberechtigen mit 73 Prozent Zustimmung und vom König Ende 2006 in Kraft gesetzt) einen Rechtsbruch des Staates Spanien gegen die autonome Region Katalonien.

Es geht darum, einen demokratischeren Staat mit einem zeitgemässen Recht zu etablieren.

Vor allem auch, weil die vom Gericht inkriminierten angeblich verfassungsfeindlichen Begriffe und Beschreibungen (etwa: «national» verwendet im Zusammenhang mit dem Begriff Katalonien, zum Beispiel «nationale katalanische Gesundheitsorganisation») in den Autonomiestatuten für Andalusien und für Valencia wörtlich gleich vorkommen, aber von der PP nicht vor das Verfassungsgericht gezogen wurden und nach wie vor Gültigkeit haben. Offensichtlich hat sich das spanische Verfassungsgericht in der nicht verfassungskonformen Zusammensetzung, in der es das Autonomiestatut für Katalonien von 2006 als ungültig erklärte, nicht einmal der Mühe unterzogen, die Wortlaute aller Autonomiestatuten der 17 autonomen Regionen Spaniens zu vergleichen.

Die Frage nach Recht oder Demokratie lässt sich in dieser Krise wohl nicht so beantworten, wie sich das Rajoy und seine Unterstützer,  die PSOE und die Ciudadanos vorgestellt haben.

Da gibt es deutlich mehr als zwei Millionen stimm- und wahlberechtigte Einwohnerinnen und Einwohner von Katalonien, welche sich durch die Madrider Polit-Zentralen von PP und PSOE mit deren pausenlos aufgeführten Winkeladvokatur-Übungen nicht blenden lassen.

Viele dieser Menschen sind zu  – ohne jede Ausnahme friedlichen – Demonstranten geworden, die manifestieren, dass sie substantielle Veränderungen wollen. Dies nicht nur wegen der Wirtschaftskrise, welche seit 2008 fortgesetzt Millionen Menschen in ganz Spanien trifft. Auch nicht nur wegen des Korruptionsstaates, den sich vor allem die Regierungspartei PP seit Jahr und Tag leistet. Es geht vielen darum, einen demokratischeren Staat mit einem zeitgemässen Recht zu etablieren.

Friedliche Demos auf beiden Seiten

Mich beeindruckt die fröhliche Art, mit der Tausende gegen Machtanmassungen demonstrieren. Es sind keine beleidigenden Plakate zu sehen, die Rednerinnen und Redner sprechen nie abfällig über «die anderen», sie sprechen (wenn überhaupt Reden gehalten werden) über das, was sie planen, was sie durchsetzen wollen. In jeder der Riesendemonstrationen habe ich viele Familien mit Kindern gesehen. Ich habe immer sehr viele Leute gesehen, die für ihre Grosseltern oder Eltern kleine Klappstühle mitgetragen haben, auf denen sich die Alten ausruhen konnten. Mitten in der an sich dichtgedrängten Masse von Menschen. Es sind Massenmanifestationen, wo sehr viel, auch kontrovers, diskutiert wird. Bei all diesen Demonstrationen ist nie auch nur eine einzige Schaufensterscheibe in die Brüche gegangen.

Nie gab es an einer dieser Demonstrationen irgend eine Friktion mit den Polizisten der katalanischen Mossos oder mit denen der städtischen Ordnungspolizei.

Auch bei den beiden Grossdemonstrationen der Unabhängigkeitsgegner in Barcelona im Oktober gab es keine Probleme. Die Organisatoren haben einen massiven Ordnungsdienst aufgestellt, damit man die eindeutig faschistischen Gruppen (an ihren Flaggen gut erkennbar) und die «Ultras, welche teilweise von weither angereist kamen, aus den Demonstrationen heraushalten konnte. Was die Reden an diesen Manifestationen betrifft: Es blieb dem Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa vorbehalten, diejenigen, welche er als seine Gegner ansieht, also die Unabhängigkeitsbefürworter, ziemlich unflätig zu beschimpfen.

Die Guardia Civil hat Menschen gezielt verletzt. Das wird hier nicht vergessen.

Festzustellen ist: Gewalt spielt in diesen bemerkenswerten Manifestationen in Barcelona im Herbst 2017 keine Rolle. Sie ist nicht vorhanden. Die einzige massive Gewaltaktion in dieser Zeit in Spanien ist weltweit bekannt geworden. Die Guardia Civil hat hunderte Menschen jeden Alters auf ihrem Kriegszug gegen jene, welche am «illegalen» Referendum  teilnehmen wollten, gezielt, bewusst also, verletzt. Diese Gewaltausübung einer staatlichen Instanz ist für sehr viele Menschen hier keineswegs ein «Ausrutscher», sondern eine unerhörte Machtdemonstration, ein durch spanische Minister befohlener Versuch einer Einschüchterungsaktion.

Das wird hier nicht vergessen. Es wird im Auf und Ab des Prozesses, der, wenn Europa Glück hat, friedlich, gewaltlos und auch mehr oder weniger offen für alle, die sich an ihm beteiligen wollen, bleiben könnte, immer eine bedeutende Rolle spielen. Ob es in diesem Prozess in absehbarer Zeit zu einer «Lösung» kommen kann, ist fraglich. Gewonnen wäre viel, wenn Zwischenlösungen erreicht werden könnten.

Dazu braucht es aber vor allem endlich die Bereitschaft von Rajoy und Co., ehrliche Verhandlungen mit den Unabhängigkeitsbefürwortern aufzunehmen. Vielleicht, um eine Erweiterung der katalanischen Autonomie im Sinne der Verträge von 2006  in die Wege zu leiten. Ein grosses Etappenziel!

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