Die Verbrechen während der Revolution sind bis heute nicht aufgeklärt

Vor zwei Jahren eskalierte die Gewalt auf dem Maidan in Kiew. Aufgeklärt sind die Ereignisse bis heute nicht. Der Frust bei Opfern und Hinterbliebenen wächst.

Igor Tschernezkij

(Bild: Simone Brunner)

Vor zwei Jahren eskalierte die Gewalt auf dem Maidan in Kiew. Aufgeklärt sind die Ereignisse bis heute nicht. Der Frust bei Opfern und Hinterbliebenen wächst.

Mit seinen 34 Jahren ist Igor Tschernezkij schon ein gezeichneter Mann. Er geht am Krückstock und hat den Status eines Kriegsinvaliden. Aber nicht vom Krieg in der Ostukraine, sondern vom Maidan. In der Nacht auf den 19. Februar 2014 stürmte Tschernezkij mit anderen Maidan-Aktivisten eine Blockade nahe des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes.

Männer in Zivilkleidung – sogenannte «Tituschki» – hatten den Weg für Rettungswagen, die die Verletzten vom Maidan hätten versorgen sollen, abgeschnitten, erzählt Tschernezkij. Eine Kugel traf Tschernezkij am Bein und durchbohrte seinen Oberschenkel. Wer die Kugel abfeuerte und auf wessen Befehl, weiss Tschernezkij bis heute nicht. Dennoch hatte er mehr Glück als viele andere Maidan-Aktivisten.

Kiew verwandelte sich in diesen Tagen in eine Hölle aus Feuer, brennenden Autoreifen und Blut. Als die Gewalt ab dem 18. Februar eskalierte, erlagen 102 Demonstranten ihren Schussverletzungen. Auch 13 Polizisten kamen am Maidan ums Leben. Die Flucht des Präsidenten Viktor Janukowitsch setzte dem Maidan wenige Tage später ein Ende.




Geblieben sind nur Erinnerungen an die Opfer. Aufgeklärt wurden die Verbrechen noch immer nicht.  (Bild: Simone Brunner)

Als sich der Rauch verzogen hatte, war es eine der lautesten Forderungen der Maidan-Aktivisten, das Blutbad jener Tage aufzuklären. Auch Tschernezkijs Verfahren wurde im Juli 2015 eröffnet. «Aber eigentlich hat es bis heute nicht angefangen», sagt der 34-Jährige grummelnd. Immer wieder werden die Verhandlungen verschoben, noch kein einziges Verhör hat stattgefunden. Bei Tschernezkij hat sich viel Frust und Misstrauen angesammelt.

Immerhin sei der Richter schon zu Zeiten der «Revolution der Würde», wie der Maidan unter seinen Anhängern genannt wird, Richter gewesen – und hätte somit womöglich Maidan-Aktivisten, die während der Revolution verfolgt wurden, verurteilt. «Das ist doch absurd!», sagt Tschernezkij empört, «vielleicht warten die Behörden ja darauf, dass sich der Wind wieder zu ihren Gunsten dreht.»

Zuletzt hagelte es auch internationale Kritik. Die ukrainischen Behörden würden die Ermittlungen verschleppen und durch eine «nicht kooperative Haltung» erschweren, urteilte der Europarat in einem Bericht im März 2015.




Auch der Europarat kritisiert, dass die Aufklärung der Verbrechen auf dem Maidan verschleppt werden. (Bild: Simone Brunner)

Auch die Tragödie von Odessa, bei der wenige Wochen später fast 50 Menschen starben, ist bis heute nicht aufgeklärt. «Zu viele Leute aus dem alten System sind in die Untersuchungen eingebunden», sagt Pawel Dykan, der die Angehörigen der Maidan-Opfer als Anwalt vertritt. So blockierten Amtsträger im Innenministerium, in der Staatsanwaltschaft und bei den Gerichten die Aufklärung. In den Amtsstuben sitze noch die alte Garde aus den Zeiten vor dem Maidan, die an einer Aufklärung wenig interessiert sei, kritisieren auch Aktivisten. Doch das ist nur einer der Gründe, sagt Dykan.

«Man darf nicht vergessen, dass es ein Verbrechen dieses Ausmasses in der Ukraine noch nie gegeben hat. Das steht in keinem Verhältnis zu den Ressourcen.» In einer Sondereinheit, die die Gewalt am Maidan aufklären soll, würden überhaupt nur 18 Ermittler arbeiten. «Selbst unter normalen Umständen dauern solche Untersuchungen Jahre. Andere Verbrechen – wie der Blutsonntag in Irland – wurden erst Jahrzehnte später aufgeklärt.»

Dykan macht das Fehlen von personellen, aber auch technischen Ressourcen für den schleppenden Ablauf verantwortlich: «Sie haben nicht einmal Computer oder eigene Server.» Als eine Mischung aus Inkompetenz und Reformresistenz fasst der Anwalt die Gründe für die schleppenden Ermittlungen zusammen.




Die Aufklärung der Verbrechen wäre wichtig – für die Hinterbliebenen, aber auch für den Staat. Er könnte zeigen, dass sich nicht nur die Gesichter der Politiker geändert haben, sondern das System. (Bild: Simone Brunner)

Andere machen indes die Führung direkt verantwortlich, zum Beispiel Oleksandra Matwijtschuk von der Hilfsorganisation Euromaidan SOS: «Wenn ich mich da in die Rolle des Präsidenten versetze und sage: Das ist das wichtigste Ereignis in der Unabhängigkeit der Ukraine, dann sehe ich keinen politischen Willen, das aufzuklären.» Fast ein Jahr lang hatte es zudem keine koordinierte Untersuchung der Verbrechen gegeben. Erst auf Druck der Aktivisten wurde im Rahmen der Staatsanwaltschaft eine Sonderermittlung eingerichtet, sagt Matwijtschuk: «Wir haben fast ein Jahr verloren.»

Der Umfang der Untersuchungen ist freilich immens. In der Zeit von Ende November 2013, als die ersten Studenten für die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens protestierten, bis zu den blutigen Tagen Ende Februar 2014 wurden mehr als 100 Tote und 1000 Verletzte registriert. In dieser Zeit wurden auch viele Beweise vernichtet, sagt Dykan. Für viele Gewalttaten wird die Sondereinheit des Innenministeriums namens «Berkut» verantwortlich gemacht.

Für viele Gewalttaten wird die Sondereinheit des Innenministeriums namens «Berkut» verantwortlich gemacht.

Rund um den Jahrestag bemühen sich die Behörden indes um Aufklärung. Am Mittwoch hat Präsident Petro Poroschenko eine Richterin gefeuert, die Maidan-Aktivisten verurteilt haben soll. Zuletzt gab die Generalstaatsanwaltschaft bekannt, dass die Namen jener Personen bekannt seien, die am 20. Februar auf Aktivisten geschossen haben, berichtete Roman Psjuk, Staatsanwalt aus der Verwaltung der Sonderermittlung: «Dabei handelt es sich um 25 Personen, davon sind 18 Mitglieder der Sondereinheit ‹Berkut› sowie zwei ihrer Kommandeure, nach denen gefahndet wird. Die restlichen fünf Personen sind derzeit in Haft.» 

Die restlichen Verdächtigen befinden sich vermutlich im Ausland. «Das Hauptproblem der Ermittlungen ist, dass die meisten Akteure in dieser Sache sich nicht mehr innerhalb des Territoriums der Ukraine befinden», sagt Wladimir Fesenko, Direktor am politischen Institut Penta. Es wird vermutet, dass Ex-Präsident Janukowitsch sowie hochrangige Vertreter der Sicherheitskräfte hinter der Befehlskette stehen, Beweise gibt es dazu nicht.




Die Schüsse kamen vermutlich von den «Berkut», die meisten aus dieser Sondertruppe konnten sich ins Ausland absetzen. (Bild: Simone Brunner)

Einen Skandal gab es indes um einen beschuldigten Berkut-Polizisten: Der Mann stand bereits unter Hausarrest und hätte sich einem Gerichtsverfahren stellen müssen, dennoch gelang ihm die Flucht aus der Ukraine. Auf Druck der Sicherheitskräfte, mutmassen Beobachter.

Dass es keine Aufklärung gibt, hat auch Spekulationen über eine «dritte Kraft» sowie zahlreiche Verschwörungstheorien angeheizt. Die russische Propaganda hatte den Maidan als den Putsch einer faschistischen Junta dargestellt, was die Stimmung auf der Krim und in der Ostukraine besonders angeheizt hat. «Gerade in diesem Informationskrieg kann nur eine unabhängige Untersuchung einen Schlussstrich ziehen», sagt Aktivistin Matwijtschuk. Für Anwalt Dykan ist die Aufklärung aber nicht nur deshalb wichtig, sondern auch «weil sie ein Indikator dafür ist, dass sich in unserem Staat nicht nur die Gesichter, sondern auch das System geändert hat».

Zum Abschluss erzählt Tschernezkij eine Anekdote – fast sinnbildlich für das Ermittlungschaos: Die Kugel, die damals in seinem Oberschenkel steckte, wurde von den Ärzten an die Behörden übergeben. Diese liessen allerdings plötzlich verlauten, die Kugel sei verschwunden. Igor Tschernezkij nahm die Angelegenheit selbst in die Hand und machte Druck. Einige Monate später tauchte die Kugel wieder auf.

Tschernezkij bleibt nur die Hoffnung auf ein faires, wenn auch langwieriges Verfahren. Eines haben ihm die Ermittlungen aber gezeigt – der Maidan sei nicht um sonst gewesen: «Die Zivilgesellschaft baut Druck auf die Behörden auf.»

_
Mehr zum Thema:

Eindrücklicher Vergleich – Kiew heute und während des Umsturzes in Bildern

Nächster Artikel