Die verlorene Heimat der Demokratie

Der gewichtigste Baustein der Demokratie ist in den vergangenen Jahrzehnten stark ins Rutschen geraten. Damit die Demokratie ihre Güte wieder entfalten kann, müssen wir erst einen neuen Ort für sie finden.

Gemälde von Jacques-Louis David: Der Ballhausschwur (Serment du Jeu de Paume) am 20. Juni 1789. Es handelt sich um den Eid der Nationalversammlung, sich nicht vorher zu trennen, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet ist.

Der gewichtigste Baustein der Demokratie ist in den vergangenen Jahrzehnten stark ins Rutschen geraten. Bis die Demokratie ihre Güte wieder entfalten kann, müssen wir erst einen neuen Ort für sie finden.

Der bisher für jede Demokratie zentrale, gewichtigste Baustein ist der Staat. Sei dies ein Nationalstaat wie Frankreich oder ein «Multinational-Staat» wie die Schweiz. Dieser Baustein ist in den letzten Jahrzehnten am meisten ins Rutschen geraten und die Bedeutung des Staates, der in und für die Demokratie zentralen Einheit, ist immer relativer geworden. Die Demokratie indes hat keinen neuen Ort gefunden, an dem und mit dem sie das Primat der Politik gegenüber dem Markt und der Ökonomie verteidigen konnte.

Etwa dreihundert Jahre lang bildete der Staat in unterschiedlichen Formen und Festigkeiten den zentralen Lebensraum, vor allem der Europäerinnen und Europäer. Die politische, weltliche Macht in diesem Staat konzentrierte sich beim «Souverän». Lange Zeit und in den meisten Staaten waren dies die Könige, Kaiser oder Fürsten. Sie herrschten in den Staaten.

Aufschwung der Vielen

In den meisten nationalen Revolutionen von 1789, 1830, 1848, 1918 und nach 1945 hat sich das Volk zum «Souverän im Staat» gemacht: Die Vielen traten an die Stelle des Einzigen und der Wenigen. Die «Volkssouveränität» – vom Aufklärer Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem berühmten «contrat social» (Gesellschaftsvertrag) entwickelt und vorweggenommen – wurde in der Demokratie zur einzigen Quelle legitimer, politischer Macht im Staat. In ihrer Verfassung, wie der entsprechende «contrat social» nun hiess, vereinbarten diese Vielen (erst der Männer, später auch der Frauen), wie sie ihre Macht organisieren wollten, das heisst, welche Institutionen aus dieser Quelle der Volkssouveränität in welcher Art gespeist werden sollten.

Zwar existierten auch innerhalb dieser staatlichen Macht andere Ordnungssysteme – zum Beispiel die kapitalistisch organisierte Wirtschaft, die mit ihr nicht ganz identisch waren. Doch die Wirtschaft war trotz der schon sehr früh bestehenden transnationalen Märkte im Wesentlichen immer noch eine «Volkswirtschaft». Das heisst auch, ihr wesentlicher Raum war der Staat. Und so funktionierte sie nach dessen Regeln, also nach den «im Namen des Volkes, dem Souverän», beschlossenen Gesetzen und Verordnungen. Das Primat der Politik galt, der entscheidende Anspruch der Demokratie für die Verwirklichung der Freiheit eines jeden und einer jeder, unabhängig von Geburt, Stand, Besitz oder Einkommen.

So wie in einer Telefonkabine kein schöner Fussball gespielt werden kann, kann die Demokratie ihre Güte heute in keinem Staat mehr entfalten.

In den 1970er-Jahren geriet diese schon immer prekäre Prioritätenordnung ins Rutschen. Über die Gründe lassen sich Bücher schreiben; eines der aufschlussreichsten ist vor bald zwanzig Jahren von Hans-Peter Martin und Harald Schumann verfasst worden und trägt den Titel «Die Globalisierungsfalle». Der demokratiepolitisch relevante Effekt war klar: Der Staat und sein Souverän wurden mehr und mehr entmachtet. Die entscheidende Ordnungsmacht war nicht mehr der Staat und seine demokratische Politik, sondern der transnationale, globale Markt. Die Staaten vermochten die Märkte nicht mehr einzuhegen und deren Folgen zu zivilisieren.

Jetzt galt es anders herum: Die Märkte betteten die Staaten ein. Jetzt gaben die Global Players den Staaten die Regeln vor. Effizienz, Wettbewerb, Rendite ersetzten Gemeinwohl, Gleichwertigkeit und Rücksichtnahme. Mit den Worten des deutschen Soziologen Wolfgang Streeck bestand die «Rolle der Politik» nun darin, «das Handeln so umfassend wie möglich ökonomischen Gesetzen zu unterwerfen und die soziale Ordnung (und «das Recht», a.g.) laufend an sich ändernde Erfordernisse des wirtschaftlichen Wettbewerbs und gelingender Kapitalakkumulation anzupassen.»

Zu schwach für das Wesentliche

Was gut und richtig ist und vor allem, was uns allen gut tun würde, war jetzt nicht mehr an den Bürgerinnen und Bürger eines Staaten zu entscheiden, sondern Sache des sozial und ökologisch blinden transnationalen Marktes. Die Demokratie hatte ihren Raum, ihren Ort, verloren. Zwar gilt sie immer noch in den Staaten für beschränkte Bereiche. Doch wenn die Staaten auf das Wesentliche, die Früchte und Gestalt unserer Arbeit, keinen entscheidenden Einfluss mehr haben und die Demokratie immer noch an den Staatsgrenzen aufhört, dann ist sie entmachtet. So wie der Staat zu klein wurde für das Grosse, wurde die Demokratie zu schwach für das Wesentliche. So wie in einer Telefonkabine kein schöner Fussball gespielt werden kann, kann die Demokratie ihre Güte heute in keinem Staat mehr entfalten.

Das muss freilich nicht das «Ende der Demokratie» bedeuten. Auch nicht, dass die real existierende Demokratie nur noch zur simulierten «Postdemokratie» verkommen muss. Der Anspruch der Demokratie, Bedingung für die Freiheit aller zu sein, gilt nicht nur nach wie vor, sondern er ist universeller denn je. Wir müssen uns nur bewusst sein, dass die Demokratie zur Verwirklichung dieses Anspruch eines neuen, transnationalen, suprastaatlichen Ortes bedarf. Der ist allerdings noch nicht, ist also ein U-Topos, eine Utopie. Wir müssen also noch etwas tun, damit dieser Ort werden kann. So wie heute alles Politische, auf das wir stolz sind, vor 150 Jahren noch mehr oder weniger utopisch war und viele erst noch einiges haben leisten müssen dafür.

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