Mit Ach und Krach hat das Europäische Parlament einen neuen Präsidenten gewählt. Der Streit im Vorfeld zeigt: Parteipolitische Haltungen werden gegenüber dem Willen zum Konsens wichtiger. Und das ist gut so.
Wer ist Antonio Tajani? Er ist der neue Präsident des Europäischen Parlaments. Seine Wahl zeigt, dass in diesem Gremium der erhabenen Zielsetzungen die politische Normalität angekommen ist.
Es wurde jemand zur Leitfigur des Parlaments gemacht, der nach inhaltlichen Kriterien nur wenig auf diesen Posten passt. Das ist die ernüchternde Seite dieser Wahl. Die erfreuliche besteht darin, dass sich das Parlament vom unguten Zwang zum falschen Konsens befreit hat und dass es somit parteipolitischer geworden ist. Das muss es seiner Natur nach sein. Parteilichkeit ist das Wesen der Politik und ist Voraussetzung für den Partizipationswillen der Basis, für eine Teilnahme, die vom «Dafür» und «Dagegen» lebt.
Absprachen zur Besitzstandswahrung
Im Europäischen Parlament hat bisher das Gesetz der Grossen Koalition geherrscht, das heisst der Absprachen zwischen den zwei ganz grossen Parteien und dem halbgrossen Juniorpartner.
Die beiden Grossen sind: die konservative Volkspartei mit 217 und die Sozialdemokraten mit 189 Mandaten. Der Junior ist die Fraktion der Liberalen mit 68 Mandaten. Letztere ist inzwischen allerdings punkto Grösse von den euroskeptischen Konservativen mit 74 Mandaten überrundet worden. Dann gibt es natürlich weitere Kräfte, zum Beispiel die Grünen und die äussere Linke.
Die Absprache zwischen den drei genannten Hauptparteien hatte eine doppelte Funktion. Sie sicherte der EU-Kommission, beziehungsweise ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker und seinen Vorlagen, die Mehrheit und sie garantierte, was immer der Sinn solcher Absprachen ist, den wechselseitigen Besitzstand.
Dem konnte noch eine etwas erhabener Funktion zugeschrieben werden: die Bildung eines Bollwerks gegen die radikalen Kräfte auf dem rechten und dem linken Flügel.
Das geteilte Präsidium
Unter den Spitzen dieses informellen Kartells ohne Koalitionsvertrag ist im Juni 2014 zu einem speziellen Punkt ein Hinterzimmer-Abkommen unterzeichnet worden: Es galt dem zwischen den beiden Grossen abwechslungsweise aufgeteilten Parlamentspräsidium. Damit liess sich der SPD-Mann Martin Schulz, der bereits zwei Jahre das Amt inne hatte, im Juni 2014 weitere zwei Jahre geben und versprach, im Januar 2017 den Posten den Konservativen zu überlassen.
Als es gegen Ende des vergangenen Jahres ums Einlösen der Absprache ging, wollte Schulz jedoch nichts mehr davon wissen. Dies mit dem Argument, dass die beiden anderen Präsidien, das der Kommission mit Juncker und das des Ministerrats mit Donald Tusk, bereits von Konservativen besetzt seien. Die Konservativen beharrten aber auf dem Geheimabkommen und machten es sogar publik.
In dieser Situation brachte sich auch der Chef der Juniorpartei der Liberalen, der Belgier Guy Verhofstadt, ins Spiel und führte eine höchst unerfreuliche Nummer auf: Der als exzentrisch eingestufte und im eigenen Land wenig populäre Proeuropäer versuchte, sich eine Mehrheit zu basteln, indem er den italienischen Antieuropäern der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo seine Fraktion öffnete.
Der ebenfalls in einem Hinterzimmer eingefädelte Deal misslang, weil die Fraktion der Liberalen nicht mitspielte. So war Verhofstadt wieder aus dem Spiel.
Tajani war EU-Kommissar für Industrie und Verkehr. Man sagt ihm eine Verwicklung in den VW-Dieselskandal nach.
Auf eine andere und doch gleiche Art pikant ist, dass dies alles im vierten Wahlgang eben dem Italiener Antonio Tajani, einem Weggefährten Berlusconis und Mitbegründer der Forza Italia, auf den Thron der 751 Mitglieder umfassenden Versammlung verhalf. Eine einfache Mehrheit von 351 Stimmen erlangte er nur Dank der Voten von Europaskeptikern und EU-Gegnern. Der stärkste Gegenkandidat, ein Sozialdemokrat, der Schulzes Nachfolger hätte werden sollen, unterlag mit 282 Stimmen.
Bei den Fraktionsanhörungen nahm Tajani als Kreide fressender Wolf selbstverständlich eine opportunistische Haltung ein und hielt nicht mehr an seiner früheren Gegnerschaft gegen Abtreibungen und Homo-Ehen fest. Tajani war EU-Kommissar für Industrie und Verkehr, kein guter, eher ein fauler. Man sagt ihm eine Verwicklung in den VW-Dieselskandal nach.
Im Gegensatz zum Vorgänger Schulz, der ein prononcierter Parteimann war, gelobte Tajani, ein über den Parteien stehender Präsident «ohne eigene politische Agenda» zu sein. Das Parlament wird einen solchen, aufs Protokollarische beschränkten Präsidenten mit Brücken- oder Klammerfunktion gewiss gebrauchen können.
Gewinn für die parlamentarische Demokratie
Das Auseinanderbrechen der grossen Koalition könnte jedoch, wie gesagt, ein Gewinn für die parlamentarische Demokratie sein, die nun nach sachlichen Kriterien wechselnde Koalitionen bilden kann. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass sich das Parlament in parteipolitischen Kleinkriegen aufreiben wird und die EU-Gegner dabei das Zünglein an der Waage spielen könnten.
Die alles in allem überhaupt nicht erhebenden Nachrichten aus dem Europäischen Parlament könnten EU-Freunde deprimieren und EU-Gegner in ihrer Haltung bestätigen. In diesen Vorgängen findet sich aber nichts, was nicht auch in nationalen Parlamenten gang und gäbe ist. Das Europäische Parlament muss nicht besser sein als die nationalen Entsprechungen.
Erschwert wird der Betrieb im Europäischen Parlament dadurch, dass es Deputierte aus verschiedensten Nationen umfasst. Freilich besteht im Vergleich zu nationalen Parlamenten in föderalistischen Staaten wie Deutschland oder der Schweiz nur ein gradueller Unterschied. Fallweise ist für die Haltung der Abgeordneten die parteipolitische Zugehörigkeit oder die nationale Zugehörigkeit ausschlaggebend.
In der EU geht es um fundamentale Alternativen: entweder die Fortsetzung des neoliberalen Kurses oder eine Stärkung der sozialen Dimension.
Wichtig ist, dass die Parteien ihr politisches Profil schärfen. Das könnte sich positiv auf die Wahlen mit bisher beschämend schwacher Beteiligung von wenig über 40 Prozent auswirken. Es würde die Bürger und Bürgerinnen vor deutlichere Alternativen stellen.
In der EU geht es nicht mehr einfach um einen allgemeinen Ausbau des europäischen Hauses, es geht in verstärkten Mass um fundamentale Alternativen, das heisst um Optionen entweder für die Fortsetzung des neoliberalen Kurses oder für eine Stärkung der sozialen Dimension.
Wieder wichtiger geworden ist auch die Frage, wie sich die EU (und ihr Parlament) gegenüber Putins Russland und Trumps Amerika positioniert. Dabei geht es nicht nur um macht- und sicherheitspolitische Fragen im Verhältnis zwischen Imperien. Diese Positionierung hat unvermeidlicherweise auch eine gesellschafts- und sozialpolitische Dimension und betrifft Fragen der sozialen Existenzsicherung, der Wohlfahrt, der Kultur.
Es besteht die Tendenz, gegenüber Institutionen der supranationalen Ebene durchgehend anspruchsvoller zu sein als im Falle der nationalen und insbesondere der eigenen Institutionen. Das beginnt damit, dass man die Legitimation des Europäischen Parlaments anzweifelt, weil es keinem einheitlichen Wahlrecht entspringt, und es endet mit der unhaltbaren Erwartung, dass das Repräsentationsgremium aus einem einheitlichen gesamteuropäischen Volk hervorgehen müsste (Demos-Theorie).
Eher zu wenig Streit
Wenn aus verschiedenen Ausgangspunkten eine gemeinsame Lösung gesucht werden muss, dann heisst es im Fall der nationalen Gremien, dass um Konsens gerungen, im Fall der europäischen Gremien hingegen, dass gezankt und gefeilscht wird.
Alles in allem ist bisher, wenigstens in der Öffentlichkeit, eher zu wenig als zu viel gestritten worden. Die im Guten, aber auch im Unguten harmonisierende Wirkung des Modells der permanenten Grossen Koalition beschränkt sich nicht auf das Europäische Parlament, sondern erstreckt sich auch auf die EU-Kommission und den EU-Ministerrat, wo Mitglieder mit verschiedenen nationalen Parteizugehörigkeiten zusammenarbeiten und Beschlüsse fassen müssen.
Im Falle der eher technokratisch arbeitenden Kommission ist das weniger nachteilig, und im Falle des Ministerrats ist das überhaupt nicht nachteilig, wenn es supranationale Annäherung unter den zu Egoismus neigenden Nationen produziert.
Im Falle des Parlaments hingegen sollten alternative Positionen vorgebracht und ausgelebt werden. Leider hat es unqualifizierte Opposition gegen Europa leicht, weil es qualifizierte Opposition in Europa schwer hat.