Martin Scorseses «The Wolf of Wall Street», dessen Hauptdarsteller Leonardo diCaprio mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde, und Alexander Paynes «Nebraska» zeigen die USA als gespaltenes Land.
Zwei Filme bieten im Moment Anlass, sich Amerika zu nähern. Glaubt man den Bildern der beiden Meister Martin Scorsese und Alexander Payne, zerfällt Amerika in zwei Welten. Jenen, die mit Arbeit Geld verdienen, droht die Arbeit auszugehen. Jenen, die Geld mit Geld verdienen, könnten bald die Quellen ihrer Einkünfte versiegen. Ganz sicher aber fehlt das echte Geld bereits heute, das noch Arbeit finanzieren könnte. In Amerika droht Arbeit bald zur unlukrativsten Erwerbsform zu werden.
Zwei Filme. Zweimal Amerika. Widersprüchlich, eigenwillig, erbarmungslos. Allerdings wäre es zu einfach zu sagen, «The Wolf of Wall Street» zeige das Amerika der Reichen und «Nebraska» jenes der Hinterländler. Dafür ist die Welt dieser absteigenden Grossmacht zu komplex. Wo Dürrenmatt einst proklamierte, der Welt sei nur noch mit der Komödie beizukommen, kann die amerikanische Welt im Krimi immer noch erklärbar gemacht werden. Beizukommen ist der dortigen Welt aber damit nicht, es sei denn in Bildern, die Widersprüche stehen lassen können. Beide Filme vereinen sich darin bildhaft zu einem Glücksfall: auf der einen Seite ein Gedicht in Schwarz-Weiss, auf der anderen ein schriller Farb-Thriller. Zwei Meister. Zwei Auffassungen in einer Debatte über Amerika.
Zwei Seiten einer Medaille
In beiden Filmen ist das Streben nach Geld das Kerngeschäft: In Paynes «Nebraska» schält sich dieser Hauptstrang erst langsam aus der Geschichte. Woody (Bruce Dern) hat in einem Zeitschriftenwettbewerb einen Millionengewinn gemacht. Er muss ihn nur abholen. Natürlich weiss jeder in der Umgebung des alten Mannes, dass es diese Million nicht gibt. Aber der verwirrte Mann bleibt so lange so stur, bis die ganze Familie den Vater begleitet, um die nicht vorhandenen Million zu holen. So kommt der alte Mann vielleicht wenigstens zu Verstand und erkennt den Sinn seines Lebens: ein armer Schlucker zu sein. Wie seine ganze Familie.
Auch in Scorseses «The Wolf of Wall Street» ist man unterwegs zu den Millionen. Aber hier sind es Millionen, die man anderen aus der Tasche lockt. Hier entwickelt der genialer Verkäufer Jordan (Leonardo DiCaprio) eine todsichere Gewinnmaschine. Mit versteckten Mehrheitsbeteiligungen an Firmen werden Kursmanipulationen zu eigenen Gunsten vorgenommen. Der Markt wird gemolken. Die Anleger gebraten. Das Geld ist auch hier virtuell. Doch in «The Wolf of Wall Street» lässt es sich in reale Werte ummünzen: Die Kulissen zumindest sind aus Marmor und baufrisch.
In «Nebraska» wird höchstens noch an einem Gebrauchtwagen gearbeitet.
Während im Hintergrund von «Wolf» die Aktienkurse laufen und die Händler im Vordergrund die Handelspreise selbst manipulieren, weisen in «Nebraska» alle Zeichen auf Abbau: Bankfilialen stehen leer. Häuser zerfallen. Gearbeitet wird höchstens an einem Gebrauchtwagen.
Während in «Wolf» in der Vorabendsendung die Ökonomen noch über «virtuelles Geld» und «Buchgeld» und «Bankengeld» nachdenken, füllt Scorsese die Bilder mit den akkumulierten Reichtümern jener, die Geld mit Geld verdienen. Als Jordan seinen Rücktritt bekannt geben will, tragen im Hintergrund der Teppichetage bereits die Ersten das Ergaunerte aus dem Bild.
Hollywood versus Indie-Film
In Scorseses Amerika lebt die Ikonografie der Hollywoodkulisse: Er setzt die Menschen in Umgebungen aus, die wir seit «Wall Street», «American Psycho», oder «The Bonfire of Vanities» als selbstverständlich voraussetzen dürfen. Sein Amerika umgibt sich mit Interieurs, die die Behauptungswelt der Reichen verteidigen. In Scorseses Amerika sind die Interieurs vollgestellt mit Dingen, denen eine mögliche Wertsteigerung innewohnt: Die Immobilien sind Anlageformen. An den Wänden hängt Kunst, die Mehrwert verspricht. In Scorseses Amerika hat die Welt des Scheins die Welt des Seins fest im Griff. Das ist nicht die «Schöner Wohnen»-Welt, die Gemütlichkeit sucht oder die «Golfer-Gazette», die in den 1990ern nach einem neuen Lebensgefühl suchte. Hier verströmt alles den Duft eines Werbeprospekts für ein «Going Public». Was zählt sind Futures. Die Gegenwart hat sich längst in die Zukunft verabschiedet.
Payne holt in «Nebraska» die Menschen in ihren eigenen vier schäbigen Wänden ab. In seinem schwarz-weiss abgelichteten Amerika sind die Interieurs schmucklos. Die Menschen sitzen auf Sofas, die aus dem Trödelladen stammen oder zumindest dorthin gehören. Die Gegenstände, mit denen sich die Menschen in Paynes Amerika umgeben, haben keine rühmliche Zukunft vor sich. Sie strahlen höchstens eine schäbige Vergangenheit aus. Der Fernseher ist kein Mega-3-D-Schaufenster in die Welt, sondern etwas, das die Menschen anstarren, ohne wissen zu wollen, was sie zu sehen kriegen. Auch wir erfahren dabei nicht, was die Menschen, die all die überschuldeten Bauruinen im Renovationsstau bewohnen, interessiert. In Paynes Amerika sind die Strassen menschenleer. Die Gegenwart ist längst nur noch Vergangenheit.
Nach der Arbeit
In Scorseses Amerika gibt es zwar durchaus eine sichtbare Form von Arbeit, die im Verkauf von Geld in unterschiedlichsten Anlageformen besteht. Aber sinnstiftende Arbeit, wie etwa Kinderbetreuung oder eine kleine Klempnerei kommen nicht vor. Vorwiegend männliche Händler schieben einander brüllend Geldanlagen zu. Frauen haben dabei eher dekorative Aufgaben und dienen den Männern eher zur Freizeitgestaltung als zur Partnerschaft. In Scorseses Amerika ist Sexualität eine Form von Geldverkehr. Wobei Finanzgeschäfte offenbar naturgegeben erfolgreich am legalen Tellerrand stattfinden müssen. Crime does pay!
In Paynes Amerika verfügen die Menschen über grandlos viel Zeit. Wenn sie miteinander sprechen, verbergen sie voreinander mehr, als sie sich sagen. Alle schämen sich, dass sie es zu nichts gebracht haben ausser zu ein paar Gebrauchtwaren. Die Menschen in Paynes Amerika arbeiten nicht mehr, sie basteln höchstens noch. Das mag an der Überalterung liegen, die offensichtlich schon in der Jugend einsetzt, oder an der Erkenntnis, dass Arbeit sich nicht mehr lohnt. Work doesn’t pay.
In Scorseses Amerika ist die Sprache jene des Verkaufs. Die Sprache ist handlungsorientiert im doppelten Sinn: Gesagt wird, was für einen Handel relevant ist. Sei es bei Tisch, im Bett oder am Computerbildschirm. F-Wörter deuten dabei den nahtlosen Übergang vom Sexual- zum Geldverkehr an. Die Sprache dient der Verteidigung der Stärke. Und der Verhüllung der wahren Absichten. Ihr Nutzen liegt im Einsatz zur Übervorteilung.
In Paynes Amerika wird hingegen nicht viel geredet. Worüber auch? Die Sprache ist bloss eine hilfloses Versteck für Schwächen. Das Schweigen der Menschen ist längst zu ihrer Hauptaussage geworden. Im Schweigen ist man sich wenigstens einig. Worte gehören bei diesen Menschen unverbrüchlich zur Arbeit. Und eben die fehlt.
Das System verschleiert sich selbst
Interessant ist dabei, dass in beiden Filme angedeutet wird, was George Orwell in seinem dystopischen Roman «1984» mit «Doublethink» bezeichnet hat: die Fähigkeit, die Realität, die man verleugnet, gleichzeitig zu akzeptieren. (Tatsachen, die unbequem geworden sind, werden vergessen oder nötigenfalls geleugnet.) Während in «Nebraska» der Dialog, der die Wirklichkeit erfassen könnte, verstummt, dienen in «Wolf» die Dialoge eben der Verschleierung der kriminellen Wirklichkeit.
Die Drogensucht spielt in beiden Filmen eine Hauptrolle. Doch während Woody in «Nebraska» sich weiter volllaufen lässt, weil er nichts mehr zu verlieren hat, lässt Jordan in «The Wolf of Wallstreet» durchblicken, dass er ohne Drogen nicht in Topform ist, weil das Geld nicht so locker fliesst. Aber er hält die Fassade der Bürgerlichkeit aufrecht. Jordan nutzt die Droge, um klarer zu sehen, Woody trinkt, um zu vergessen.
Wie auch immer Scorsese versucht, dem Markt ein Gesicht zu geben – es gerät ihm zu einer beängstigenden Fratze. Die Händler treten in Horden auf. Ihre Arbeitswelt ist ein wilder Rudeltreff. Die Choreografien, die Scorsese mit seiner Händlerhorde in seinem Grossraumbüro erfindet, sind schlicht beängstigend. Mit lauter Strohmännern kann so ein Finanzkonstrukt leicht Feuer fangen. Hier lullt sich eine Klasse von Menschen in das Selbstverständnis von Siegern ein. Das hat schon Züge von Bewunderung, mit denen Scorsese die Geld-Sektierer schildert. Deshalb schafft er es auch nicht, die Mechanismen des Marktes dahinter freizulegen. Dennoch lässt er die Fratze der Gier sich «bis zur Kenntlichkeit entstellen», wie es einst Francis Bacon nannte.
Payne hingegen blickt mit einem tiefen Verständnis auf seine Figuren. Er stattet die Figuren mit einem liebevollen Humor aus. Er öffnet seinen Menschen Auswege. In Paynes Amerika kennen die Menschen das Gefühl des Zusammenstehens. Während Payne der Hoffnung, der amerikanische Mensch könne vielleicht doch gut sein, Raum lässt, schliesst Scorsese erbarmungslos: Sein amerikanischer Mensch ist systemisch gefangen. Solidarisch ist er höchstens zur Gewinnmaximierung. Gefühle sind in diesem System längst nur ein Reflex der Mehrwerttheorie.
Ein Filmereignis aus zwei Einzelwerken
Doch eines vereint beide Filme: grosse amerikanische Schauspielkunst. Was Leonardo DiCaprio spielt, ist grossartig abstossend. Er fächert die Nöte und Verwirrungen eines Süchtigen in allen Facetten auf. Er bringt seine Sucht gar selbst auf den Punkt: Er ist schlicht nach allem süchtig, was ihm die Liebe ersetzt. Geld kann das am besten. Weil Geld fast alles kaufen kann. Dabei sei, so sagt Jordan, seine grösste Sucht, Geld mit Geld zu verdienen.
Schlicht genial ist DiCaprio dort, wo Scorses ihn das praktizieren lässt, was das «Doublethink» erfordert: die Gedanken ihrer Figuren hinter Worten zu verstecken. Was DiCaprio in illegalen Verhandlungen an Sprachtaktiken praktiziert, ist Schulungs-Höhepunkt: Egal, ob er dem FBI-Beamten eine Bestechung anbietet oder den Bankier in Genf über die Möglichkeiten eines illegalen Kontos aushorcht, Jordan praktiziert das «Doublethink» perfekt.
Ebenso bestechend lässt uns Bruce Dern einen Sturkopf in «Nebraska» erleben. Doch hinter den dicken Brillengläsern seiner Figur schlummern nicht zwei Wolfsaugen, sondern die gütigen Augen eines Dackels. Bruce Dern lässt seine Glieder immer schwerer werden. Fast am Ende, als er bereits zum zweiten Mal zu Boden geht, keimt Hoffnung. Das ist einfach hinreissend, wie Dern da noch einmal ein ganzes Leben Revue passieren lässt, als er am Steuer seines Trucks durch sein altes Dorf tuckert. Dern entwickelt in der Rolle des alten Mannes eine gigantische Demut. Das ist berührend und erheiternd zugleich.
Beide Filme ergänzen sich: Überdeutlich der eine, zärtlich der andere. Lebenssüchtig der eine, melancholisch der andere. Eigentlich darf man in diesem Glücksfall keinen der beiden Filme allein empfehlen. Scorsese kennt die Kulissen. Er spielt auf der Klaviatur der Hochspannung. Selbst das hübsche Dörfchen der Cinque Terre gibt hinter der Jacht des Tycoons noch eine masslose Scheinfarbe ab. Payne hingegen lauscht den leisen Tönen der Menschen nach. Er bringt die Stille des Hinterlandes zum Klingen. In seinen Schwarz-Weiss-Fotografien wohnt die ganze grossartige Geschichte einer ehemaligen Führungsmacht. Und die Spuren einer grossen Vorkämpferin für die Freiheit des Menschen: der amerikanischen Union.
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Der Film «Nebraska» läuft im kult.kino Atelier, «The Wolf of Wall Street» wird ab dem 16.1. in Basel zu sehen sein.