Francesco Verde lebt in Scampia, einem berüchtigten Viertel von Neapel, das für Verbrechen, Drogenhandel und Gewalt weltbekannt ist. Er beging Raubüberfälle und Diebstähle. Dann ermordete die Camorra seine Schwester.
Man muss Francesco Verde genauer ansehen, um zu erkennen, dass er ein gezeichneter Mensch ist. Eine Narbe zieht sich von der Stirn bis auf seine Nase. Auf dem linken Arm trägt er die Spur eines anderen tiefen Schnitts.
Das sind die sichtbaren Verletzungen aus seiner Vergangenheit als Dieb und Räuber. Dann ist da noch eine viel tiefere Wunde, sie hat mit Gelsomina zu tun. Es ist bald 13 Jahre her, dass Francesco Verdes Schwester von der Camorra gefoltert, erschossen und schliesslich verbrannt wurde.
Jetzt sitzt dieser Ex-Kriminelle vor einem, gross und muskulös. Verde, 36 Jahre alt, hat gelernt, seine Geschichte zu erzählen. Es fällt ihm aber immer noch nicht leicht. Manchmal stockt er und holt Luft. Sieben Jahre lang sass er im Gefängnis. Er beging Raubüberfälle und schwere Diebstähle. Er tat das, was nicht wenige Jugendliche in Scampia tun, dem trostlosen Viertel in der nördlichen Peripherie Neapels.
Für sie scheint es nur eine Möglichkeit zu geben: sich schnelles, schmutziges, manchmal sogar blutiges Geld zu beschaffen. Denn in Scampia wächst einzig der Verfall. Das Leben spriesst aus der Chancenlosigkeit. Die Frage ist, ob man nur mit Hilfe einer Tragödie aus diesem Kreislauf ausbrechen kann.
«Wer in Scampia aufwächst», sagt Verde, «der trägt sein ganzes Leben einen Stempel mit sich herum, den Stempel der Kriminalität.» Das gilt ohnehin für die vielen Jungs, die mangels Alternativen in den Fängen der Drogenclans hängen bleiben. Über 60 Prozent der Menschen hier sind arbeitslos.
Die Stigmatisierung gilt aber auch für alle anderen, die hier leben. Die vier Hochhäuser mit dem poetischen Namen Le Vele, die Segel, die wie faule Zähne in den Himmel ragen, sind in ganz Italien bekannt als Fanal für das Scheitern des Staates.
Sie wurden vielfach beschrieben – in Zeitungsartikeln und Bestsellern wie «Gomorrha» von Roberto Saviano, der Vorlage für eine erfolgreiche Fernsehserie und einen Kinofilm wurde. Manchmal ist es schwieriger, das Etikett des kollektiven Versagens wieder abzustreifen, als die Wirklichkeit zu verändern.
Von aussen betrachtet ist Scampia auch Jahre nach dem offen ausgetragenen Bandenkrieg der Camorra ein Ort, den man so schnell wie möglich wieder hinter sich lassen will. Breite Strassen, farblose Wohnklötze, Armut, Müll, Zerstörung. Schätzungsweise 80’000 Menschen wohnen hier, etwa so viele wie in Luzern oder St. Gallen. Genau weiss das niemand, denn die Hälfte von ihnen ist nicht gemeldet und damit unerreichbar für den Staat. Städtische Kindergärten gibt es nicht, dafür aber Gewalt und Drogen en masse.
Francesco Verde sitzt auf einem Stuhl vor einer ehemaligen Schule. Als der Krieg der verfeindeten Mafiaclans im Jahr 2005 seinen Höhepunkt erreichte, machte die Schule dicht. Niemand wollte noch seine Kinder hierher schicken, wenn beinahe täglich Menschen auf offener Strasse erschossen wurden. Die Schule diente als Waffenlager der Killer und als Treffpunkt für abgehalfterte Junkies.
Heute hat hier die «Kulturfabrik Gelsomina Verde» ihren Sitz. Das nach Francesco Verdes Schwester benannte Kulturzentrum soll einer der Orte der Hoffnung im Elend sein, das sich langsam zu verflüchtigen scheint. Viele Bosse sitzen inzwischen im Gefängnis, der Rauschgifthandel ist im Vergleich zu früher überschaubarer geworden. Polizei und Justiz haben durchgegriffen. Das ist zumindest die Innenansicht auf Scampia, der eine Gruppe von Aktivisten zum Durchbruch verhelfen will.
Sanzone und Corona sammelten Geschichten, die Mut machen. Aus ihrer Antologie mit dem Namen «Scampia Trip» wurde ein Theaterstück, in dem auch Francesco Verde auftritt. Aus dem Theaterstück wurde eine regelrechte Stadtrundfahrt für diejenigen, die sich nicht am Abschaum Neapels ergötzen, sondern den Keim der Veränderung sehen wollen. Seit April fährt die Gruppe nun auf der «Scampia Trip Tour»-Besucher inmitten von Hässlichkeit und Illegalität von einer kleinen Oase zur anderen.
Man kann das als Augenwischerei bezeichnen in einer Wirklichkeit, in der man Veränderung mit der Lupe suchen muss. Aber sogar ein banaler Fussballverein hat in Scampia eine andere Bedeutung als in Luzern oder St. Gallen. Dort, wo heute drei gepflegte Kunstrasenplätze, eine Bar und eine Umkleidekabine stehen, tummelten sich früher Ratten und wilde Hunde inmitten gebrauchter Spritzen. «Wir wollten einen Ort schaffen, wo sich die Menschen abseits des Elends treffen können und es ihnen gut geht», sagt Antonio Piccolo, der Präsident des Fussballvereins Arci Scampia.
Vor zehn Jahren wurde der Verein gegründet, mit Hilfe der Stadtverwaltung, die das Areal zur Verfügung stellte. «Früher war das hier ein Drogensupermarkt unter freiem Himmel», erzählt Piccolo. Heute herrsche nur noch die Kleinkriminalität. «Die Gefahr ist, dass die illegale Wirtschaft nicht durch eine legale ersetzt wird», sagt der Vereinschef. Piccolo sorgt sich, dass manche bald der Vergangenheit nachtrauern könnten, wenn keine tragfähigen Alternativen in Scampia geschaffen werden.
Was also tun, um den zerbrechlichen Wandel nachhaltig zu gestalten?
Diese Frage haben sich auch die Frauen von Chikù gestellt, des einzigen und seit bald zwei Jahren geöffneten Restaurants in Scampia. Neapolitanerinnen und Roma-Frauen kochen und servieren hier zusammen. Das Essen ist köstlich, neben einheimischen Spezialitäten wie Parmigiana – einer Art Lasagne mit Auberginen, Parmesan und geräuchertem Büffelmozzarella – werden auch balkanische Spezialitäten zubereitet.
«Unsere Idee war, die Vorurteile durch das verbindende Element des Essens zu überwinden», sagt Barbara Pierro, eine der Teilhaberinnen. Die Realität ist mühsamer. An diesem Mittag sind gerade einmal vier von mehr als zwei Dutzend Tischen besetzt. Das Problem ist auch hier, den Übergang von einer guten Idee zu einem wirtschaftlich tragfähigen Unternehmen zu schaffen. Obwohl Chikù direkt über dem Polizeikommissariat von Scampia liegt, verwüsteten Unbekannte erst vor ein paar Wochen nachts die Einrichtung und nahmen Teile des Inventars mit.
Wäre dieser Vorfall vor 15 Jahren passiert, hätte Francesco Verde einer der Täter sein können. Es war im Herbst 2002, als er seine letzte Haftstrafe verbüsste, 14 Monate wegen versuchten Diebstahls. Auch seine Schwester besuchte ihn damals im Gefängnis. In ihrer Freizeit half Gelsomina den Kindern von inhaftierten Vätern bei der Hausaufgabenbetreuung.
Der Anblick ihres immer tiefer sinkenden Bruders setzte ihr zu. «Merkst du eigentlich, dass du hier drin immer hässlicher wirst?», sagte Gelsomina. Im letzten Brief, den er von ihr erhielt, stand noch der Satz: «Du bist der Mensch, der mich am meisten verletzt hat.» Die Schwester fühlte sich von ihrem Bruder verraten, der schon zu lange vom rechten Weg abgekommenen war.
Francesco Verde selbst war es, der zwei der Mörder seiner Schwester als Heranwachsenden beigebracht hatte, wie man Raubüberfälle begeht.
Wenig später schlug die Camorra zu. Die Killer verlangten von Gelsomina Verde die Herausgabe eines Fotos ihres Ex-Freundes, der sich einem verfeindeten Clan angeschlossen und versteckt hatte. Die 22-Jährige, die nichts mit der Kriminalität zu tun hatte und schon damals an ein besseres Scampia glaubte, weigerte sich und musste deshalb sterben.
Es war der 21. November 2004, als die Täter ihr erst Finger und Zehen brachen, bevor sie sie erschossen und das Auto mit ihrem Körper in Brand steckten. Francesco Verde muss schlucken. Er selbst war es, der zweien der Mörder seiner Schwester einst beigebracht hatte, wie man Raubüberfälle begeht. Er hatte den beiden damals Heranwachsenden den Weg gewiesen, der in seine eigene Tragödie führte.
«Mina musste sterben, weil sie sich der Mentalität der Camorra widersetzt hat», sagt Verde. Den Mut und die Ideale seiner Schwester weiter zu tragen, sei das Mindeste, was er ihr schuldig sei.
«Wer in Scampia aufwächst», sagt Verde, «der trägt sein ganzes Leben einen Stempel mit sich herum, den Stempel der Kriminalität.» Der Ex-Sträfling kämpft dagegen. (Bild: Max Intrisano)