Diskussion als Seele der Demokratie

Die Debatte über die Abschaffung der Schweizer Armee vor 25 Jahren offenbarte eine Schweiz, deren humanes Potenzial bis heute nicht ausgeschöpft wurde.

(Bild: Keystone)

Die Debatte über die Abschaffung der Schweizer Armee vor 25 Jahren offenbarte eine Schweiz, deren humanes Potenzial bis heute nicht ausgeschöpft wurde.

Vor 25 Jahren ist auch in der Schweiz eine Mauer gefallen: die Schweizer Armee. Zwar begrenzte diese keinen Unrechts- und Willkürstaat. Doch sie stand vielerlei Einsichten im Weg, begrenzte politische Horizonte, machte die Enge noch enger, behinderte die Achtung von Menschenrechten und sozialisierte zu viele Männer in einer Art, wie sie diese selbst und die Schweiz ganz allgemein am wenigsten gebrauchen konnten.

Zwar fiel die Schweizer Armee nicht ganz und nicht genau gleich wie die Berliner Mauer. So gibt es sie im Unterschied zur Letzteren bis heute noch. Wenn auch um mehr als die Hälfte reduziert; und profanisiert wie irgendeine andere staatliche Einrichtung auch. Heute kann man über sie reden wie über die Alkoholverwaltung oder die Berufsschule. Und sie fiel auch nicht auf Befehl von oben oder weil sie von aussen nicht mehr gestützt worden wäre. 

Ideen zur Sprache bringen

Die Berliner Mauer fiel, weil Millionen von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern genug hatten von der massiven Beschränkung ihrer Lebenschancen. Im Sommer begannen Zehntausende, sich nach Osten, wo es lange keine Mauer geben musste, abzusetzen und sich der Unterdrückung zu entziehen. Im Herbst waren es dann Hunderttausende, die während sieben Wochen nicht mehr von den Strassen und Plätzen wichen und sich ganz unmittelbar – ohne die in der DDR fehlenden institutionellen Formen des Widerspruchs, der Kritik oder der Opposition – einer Herrschaft widersetzten, die sich nie wirklich um die Befindlichkeit der Menschen gekümmert hatte. Direkter, ausserinstitutioneller, ziviler Ungehorsam war das, der immer auch zur Demokratie gehört; vor allem dann, wenn alle anderen Formen der demokratischen Äusserung ausgeschöpft sind – oder eben gar nie existiert  haben. 

Die Schweizer Armeegegnerinnen und Armeegegner konnten sich dagegen eines Mitwirkungsinstrumentes bedienen, das andere demokratische Volksbewegungen zuvor erkämpft und 1891 in der Bundesverfassung verankert hatten: das Initiativrecht. Damit wollten die Pioniere der direkten Demokratie Ideen und Reformen zur Sprache bringen können, die im Parlament entweder übersehen und verdrängt wurden oder schlicht chancenlos waren.

Die Armee wurde zum Tabu, weil niemand sich mit der Lebenslüge befassen wollte, wonach das Militär die Schweiz vor den Nazis bewahrt hätte.

Da ausser der Mehrheit des  Initiativkomitees niemand, auch kein Bundesrat oder keine Parlamentsmehrheit, die Volksabstimmung über eine ordentlich zustande gekommene Volksinitiative verhindern kann, verschafften diese Pioniere engagierten Bürgerinnen und Bürgern eine kommunikative Macht, die ihnen in der bloss indirekten Demokratie fehlt: Sie können der Gesellschaft jederzeit die Diskussion einer Frage aufdrängen, die diese aus welchen Gründen auch immer meiden möchte. Und die Diskussion eines Themas ist bekanntlich die Bedingung, wenn auch noch nicht die Garantie dafür, dass sich in diesem Themenbereich etwas ändert.

Dass sich ein gesellschaftliches Tabu wie die Schweizer Armee zur Anwendung dieser kommunikativen Macht besonders gut eignet, ist im Nachhinein jedem einsichtig. Zumal die Armee deshalb zum Tabu wurde, weil sich viel zu lange fast niemand mit der nationalen Lebenslüge, wonach das Militär die Schweiz vor den Nazis bewahrt hätte, wirklich auseinandersetzen mochte. Denn eine solche Debatte hätte das mit der Lebenslüge verbundene schlechte Gewissen der Nation berührt, was viele sehr geschmerzt hätte.

Doch anfänglich musste das Tabu auch bei jenen aufgebrochen und überwunden werden, welche sowohl intellektuell wie gefühlsmässig wussten, dass die Armee rational nicht mehr zu rechtfertigen war und dass sie im Frieden zerstörte, was sie im Krieg nicht verteidigen konnte. Dieser erste Tabubruch zwischen 1981 und 1985 war sehr anstrengend und nur möglich durch unzählige Diskussionen im Hinblick auf die Lancierung der Volksinitiative im Frühjahr 1985. In und dank diesen Tausenden von Diskussionen begannen viele, ihre besseren Einsichten vom Tabu zu befreien und entsprechend zu handeln.

Die Häfte der Hälfte der Hälfte

Dies gelang umso häufiger und besser, je mehr die Angesprochenen merkten, dass sie nicht allein waren und andere diese Befreiung diskursiv auch schon vollzogen hatten. So sprachen in der Phase der Unterschriftensammlung zwischen März 1985 und September 1986 etwa tausend Engagierte eine Million wildfremde Menschen an, von denen sich etwa die Hälfte auf ein Gespräch einliess, davon wiederum die Hälfte Sympathien zeigte, wovon wiederum aber nur die Hälfte unterschrieb und die Initiative über die erste grosse Hürde brachte.

Diese enormen gesellschaftlichen Diskussionsanstrengungen vervielfachten sich anschliessend anhand Tausender von Anlässen und unzähliger Anstösse über Bücher, TV-Filme, Weindegustationen, Konzerte und simple Podiumsveranstaltungen. In diesen Gesprächen fanden immer mehr Schweizerinnen und Schweizer den Mut, ihren neuen und alten Einsichten zu folgen und sich vom Tabu zu lösen. So kamen am 26. November 1989 die 1’052’306 Ja-Stimmen (35,6 Prozent bei einer Stimmbeteiligung von über 70 Prozent) zusammen, welche der offiziellen Schweiz eine andere Schweiz offenbarten, von deren Existenz niemand wusste und deren humanes Potenzial bis heute nicht ausgeschöpft worden ist.

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