Wie die 27-jährige Oxana Sejfulina sind die Einwohner von Slowjansk erleichtert über das Ende der Belagerung. Doch die Bevölkerung bleibt gespalten: Viele sind misstrauisch gegenüber der Regierung in Kiew. Unterdessen rückt die ukrainische Armee in Richtung Donezk vor.
Oxana Sejfulina ist froh, dass der Schrecken endlich vorbei ist. Im April erlebte die 27-Jährige, wie Separatisten ihre Heimatstadt Slowjansk besetzten. Mit Kalaschnikows bewaffnete Milizen hatten Strassensperren gebaut, sich im Stadtzentrum verschanzten und Geiseln genommen.
Der Alptraum für die Bürger begann, als die ukrainische Armee die Industriestadt einkesselte, Granaten in Wohnhäusern einschlugen und Lebensmittel knapp wurden. Im Mai flüchtete Sejfulina aus der Rebellenhochburg in die westukrainische Stadt Lviv (Lemberg).
Valery, 63, schaut aus dem Fenster seiner – durch Artellerie – beschädigten Wohnung. (Bild: SHAMIL ZHUMATOV)
Als am Samstag die Armee in Slowjansk und Kramatorsk einrückte, war Sejfulina erleichtert. «Es gibt keine Schiessereien mehr», sagt die junge Frau, als könne sie es selbst noch nicht ganz fassen. Nicht alle Einwohner von Slowjansk sehen die Armee als Befreier. Sie sind zwar froh, dass die Belagerung vorbei ist. Viele glauben jedoch, dass sich in Kiew eine faschistische Junta an die Macht geputscht hätte – wie russische Medien immer wieder behaupten.
Tatsächlich kämpfen in der Nationalgarde, die dem Innenministerium untersteht, auch Rechtsradikale. Ein Umstand, der kaum zum inneren Frieden in der Ukraine beiträgt – auch wenn die Mehrheit der Truppen aus ehemaligen Maidan-Aktivisten besteht, die rechtsradikales Gedankengut ablehen.
Ein Sammelbecken für Neonazis
So soll insbesondere das Asow-Batallion, das rund 70 Freiwillige umfasst, ein Sammelbecken für Neonazis sein. Die Einheit kämpfte im Mai gegen prorussische Milizen in Mariupol und wird von Mitgliedern der «Sozial-Nationalen Versammlung» geführt. Das Wappen der Truppe besteht aus einer Wolfsangel, dem Symbol ukrainischer Neonazis, und aus einem indischen Sonnenrad.
Die Separatisten sind angewiesen auf Nachschub aus Russland. (Bild: MAXIM ZMEYEV)
Bei der Rückeroberung von Slowjansk und Kramatorsk sollen am Freitag auch Zivilisten durch Artillerie getötet worden seien, berichten ukrainische Zeitungen. Einige Bewohner trauten dem Frieden nicht und fürchteten, in die Schusslinie zu geraten, sagt Oxana Sejfulina. Jeden Tag telefoniert sie mit Freunden in Slowjansk. «Sie verstecken sich immer noch in ihren Wohnungen», fügt sie hinzu.
«Die Leute verstecken sich noch immer in ihren Wohnungen.»
Die Industriestadt, die in den vergangenen Monaten zum Symbol der Separatisten wurde, sei sicher, erklärt dagegen die Regierung in Kiew. Soldaten verteilen Trinkwasser, Brot und Kartoffeln an die Bewohner, bewaffnete Einheiten patrouillieren in den Strassen. Wohnhäuser, Schulen und Betriebe würde der Staat wieder aufbauen, verspricht Präsident Petro Poroschenko.
Bleibt der Nachschub aus Russland aus, sind die Separatisten am Ende
Unterdessen setzt die Armee ihre Offensive fort und kesselt die Milizen immer weiter ein. Den Grossteil der Kampfregion haben die Streitkräfte zurückerobert. Bleibt der Nachschub aus Russland aus, könnten die Separatisten in drei Wochen geschlagen werden, meinen Militärexperten in Kiew.
Spuren des Kampfes auf der Strasse nach Slawjansk. (Bild: GLEB GARANICH)
Doch Donezk und Lugansk stehen weiterhin unter Kontrolle prorussischer Milizen. Am Wochenende zogen tausende schwer bewaffnete Kämpfer, die zuvor aus Slowjansk und Kramatorsk geflohen waren, in die Donezker Innenstadt ein. Das Stadtzentrum wirkte wie ausgestorben, Zivilisten waren dort kaum zu sehen, berichten Einwohner.
Leute fliehen aus Donezk
«In den Wohngebieten ausserhalb der Innenstadt ist es noch ruhig», sagt Ilja Pogorelow, der an der Nationalen Universität in Donezk studiert und im Kirow-Bezirk wohnt. In der Nacht habe er jedoch Schüsse gehört, berichtet der 19-Jährige. Einwohner würden aus Donezk in die umliegenden Dörfer fliehen, erzählt der Student. Viele seiner Freunde und Mitstudenten seien aus Angst zu Verwandten nach Kiew, Odessa, Rostow oder St. Petersburg geflohen.
Donezk könnte, ebenso wie Slowjansk, von der Armee belagert werden, erklären Militärexperten. Dann drohen der Stadt, in der knapp eine Million Menschen leben, Artilleriebeschuss und Strassenkämpfe. «Die Stadt darf nicht bombardiert werden», warnte Oligarch Rinat Achmetow, der einen Grossteil der Wirtschaft in Donezk kontrolliert.
Oxana Sejfulina möchte so schnell wie möglich ihre Eltern in Slowjansk besuchen – ganz in ihre Heimatstadt zurückkehren möchte sie aber nicht. Die Frau mit den halblangen schwarzen Haaren ist Hochzeitsfotografin und hat im ukrainischsprachigen Lviv (Lemberg) in kurzer Zeit viele Klienten gefunden. «Sie stören sich nicht daran, dass ich nur Russisch spreche», sagt sie.