Du sollst dir dein Bildnis machen

Schnell geknipst und gleich geteilt – Selfies erlauben Selbstdarstellung in Echtzeit. Jugendliche wie Erwachsene suchen damit Aufmerksamkeit und Anerkennung. Was macht das mit uns?

«Picture or it didn't happen»: Ohne Bildbeweis ist das Treffen mit dem Papst nichts wert. (Bild: POOL)

Mit digitalen Selbstporträts präsentieren wir uns vor Kollegen und der halben Welt im virtuellen Raum. Die permanente Selbstdarstellung schafft neue Regeln der Beziehungspflege.

Kürzlich fand ich in meinem Keller einen Stapel Selfies. Versteckt in einem ausgebeulten Portemonnaie, mit Eselsohren und seltsamen braunen Flecken. Zwar sind die Leute darauf nicht nackt, etwas peinlich berührt war ich dennoch. So cool, wie sie sich damals als 14-Jähriger anfühlte, ist die Pose mit der grossen Sonnenbrille gar nicht.

Wo heute das Smartphone ausreicht, rannten wir noch zur Unterführung im Bahnhof SBB. Zum Fotoautomaten, der für einen Franken und nach beträchtlicher Wartezeit vier nach faulen Eiern stinkende Bilder ausspuckte. Die Höhe des Stapels mit Bildern von Kolleginnen und Kollegen war ein guter Indikator für den sozialen Status. Wir nannten die Fotos jedoch nicht «Selfies», sondern «Passföteli».

Heute aber ist das Selfie – ein meist digital verbreitetes Selbstporträt – im Mainstream angekommen. Der auf Augenhöhe ausgestreckte Arm mit unnatürlich angewinkeltem Handgelenk ist die Ikone unserer Zeit. Als anekdotischer Beleg eine Auswahl medialer Ereignisse der letzten Tage und Wochen:

Die hiesigen Medienhäuser verschreiben sich also gleich seitenweise dem Selfie. Mit der Vorsilbe «Nackt-» hat es eine vermeintliche Brisanz und mit Geri Müller zuletzt gar eine behauptete politische Relevanz bekommen. So taucht das Selfie plötzlich auf dem Wahrnehmungsradar der Medienhäuser auf. Im voyeuristischen Sensationsmodus bleibt der Blick jedoch unscharf.

Wirklich interessant sind nicht blamable Einsichten in das Sexualleben eines Politikers. Interessant ist die Tatsache, wie selbstverständlich es inzwischen offenbar geworden ist, von sich selber Bilder anzufertigen und diese über soziale Medien mit der Öffentlichkeit oder ausgesuchten Empfängern zu teilen. So selbstverständlich, dass sogar ein gestandener Medienprofi wie Geri Müller sich sehenden Auges zum Austausch intimer Bilder hinreissen lässt und damit seine ganze Karriere aufs Spiel setzt.

Sind Bilder das Mass aller Dinge geworden?

Wie kam es zu diesem bemerkenswerten Aufstieg der ungelenken Selbstbildnisse? Wie ist das Selfie zur gängigen kulturellen Praxis unserer Kommunikationsgesellschaft geworden? Ist das unablässige Anfertigen von Selbstporträts Ausdruck eines überhöhten Selbstbewusstseins? Oder offenbart es ein Streben nach Anerkennung? Was bedeutet es, wenn das Fotografieren zum Reflex wird? Sind Bilder das Mass aller Dinge geworden?

Wie viele Entwicklungen, die zum Trend mutieren, fand auch das Selfie zuerst unter Jugendlichen Verbreitung. Popstars wie Justin Bieber und Rihanna begannen damit, die Welt über soziale Medien wie Twitter und Instagram mit Bildern zu versorgen. Ein neues Tattoo? Ein neues Hündchen? Die wilde Party auf einer Jacht? Plötzlich nahmen die Fans in noch nie dagewesenem Ausmass am Leben ihrer Idole teil. Was sie sahen, wirkte authentisch und natürlich. Vom Konsumieren solcher Bilder bis zum Selbermachen war es ein kurzer Weg. Auf Twitter und Instagram kann jeder Bilder hochladen, egal ob Promi oder nicht.

In Basel gibt es die «MedienFalle». Der Verein führt mit Schulklassen, Unternehmen und anderen Organisationen medienpädagogische Workshops durch. Die zunehmende Vernetzung über soziale Medien birgt Risiken, namentlich für die Privatsphäre. Deshalb versuchen die Medienpädagogen, die Teilnehmer in ihren Kursen diesbezüglich zu sensibilisieren. Natürlich sind dort auch Selfies ein ständiges Thema.

«Indem die Jugendlichen ein Selfie hochladen, wollen sie auch Reaktionen provozieren.»

Attila Gaspar, Medienpädagoge

Attila Gaspar, der Geschäftsführer der «MedienFalle», weiss, weshalb gerade Jugendliche sich so gerne selbst fotografieren. «Mit einem Selfie kann man sich ausprobieren, verschiedene Looks testen und in Rollen schlüpfen.» Das sei interessant, weil die Jugendlichen in diesem Alter dabei seien, ihre soziale und gesellschaftliche Identität zu finden. Bei diesem Ausprobieren kann es natürlich auch zu Missgeschicken kommen. Zum Beispiel dann, wenn sich die Jugendlichen nicht bewusst sind, wie öffentlich ihre Bilder tatsächlich sind. Nina Halpern, eine Kollegin von Gaspar, erinnert sich etwa an ein Mädchen. «Wir fanden auf Facebook von ihr Hunderte von Fotos, viele davon in erotischen Posen. Da war sie ziemlich überrascht.»

Doch Selfies seien nicht nur als Selbstbildnisse zu verstehen, sagt Gaspar. «Indem die Jugendlichen das Selfie hochladen, auf Instagram oder in den Klassenchat auf Whatsapp, wollen sie auch Reaktionen provozieren.» Ein solches Foto ist also auch Aufforderung und Einladung zur weiteren Kommunikation. Das kann eine Bewertung sein, ein Kompliment oder sonst ein Signal der Kenntnisnahme. Damit erhält das Selfie den Charakter einer Nachricht. Wie der Status auf Facebook soll er den Empfängern einen Eindruck davon vermitteln, wie es der Absenderin geht, was sie beschäftigt und welche Schuhe sie trägt. Vielleicht kommt dann ein Bild zurück: Du bist in den Bergen am Wandern? Ich sitze grad mit meinem Bruder am See!

Die Reaktion ist auch Bestätigung: Du denkst an mich? Ich denke an dich! Medienpädagoge Philippe Wampfler hebt im Interview genau diese soziale Dimension der Selfies hervor. «Selfies sind Smalltalk in Bildform. Sie dienen dazu, Beziehungen aufrechtzuerhalten und zu festigen.»

Smalltalk? Das ist ein sozialer Akt, den nun beileibe nicht nur Jugendliche praktizieren. Wenn Selfies das bildgewordene Geplauder sind, ist es wenig erstaunlich, dass auch Erwachsene davon Gebrauch machen. Ich lasse meine Freundin wissen, wenn ich beim Wandern eine besonders schöne Ecke gefunden habe, und teile den Anblick mit ihr. Die Einladung zu einem Drink am Rhein fand ihren Weg auf meinen Handydisplay auch schon als Foto eines bunten Getränkes. Manchmal reicht ein Bild als Botschaft aus. Manchmal wird eine Beschreibung der beschriebenen Sache nicht gerecht. Manchmal lässt sich eine Situation nur schwer in Worte fassen.

Verlieren wir in einer bildgesättigten Welt die Fähigkeit und die Lust, uns schriftlich auszudrücken? Kulturpessimismus ist konservativ und langweilig, denn er verneint aktuelle Entwicklungen und verwechselt Stagnation mit Stabilität. Viel interessanter ist die Sichtweise, dass sich unser Kommunikationsrepertoire ständig erweitert. Das Fotografieren liegt mittlerweile so nah, dass wir es souverän einsetzen, wo uns Sprache nicht das geeignetste Medium zu sein scheint.

Teilen führt zu Anteilnahme

Die Technik treibt die Entwicklung voran. Und umgekehrt. Immer nahtloser können wir Bilder produzieren und mit der Welt teilen. Musste man früher noch mühsam den Bildchip aus der Digitalkamera klauben, um die Bilder via Computer ins Internet zu stellen, findet dies heute alles auf demselben Gerät statt. Ich kann direkt aus der Twitter-App auf die Handykamera zugreifen, und nach dem Auslösen trennt mich lediglich eine Taste auf dem Touchscreen davon, das Bild mit der ganzen Welt zu teilen.

«Culture of sharing» nennt Daniel Graf dieses Bedürfnis, individuelle Erlebnisse und Beobachtungen mit seinen Freunden zu teilen. Der Kommunikationsberater ist auf Kampagnen in den sozialen Medien spezialisiert. Ausserdem doziert er an verschiedenen Hochschulen zu diesem Thema. «Spannend an Selfies ist der Instant-Charakter. Im Moment, in dem ich etwas sehe, kann ich es teilen», sagt Graf.




«Das glaubt mir ja sonst niemand», dachte sich der Stallone-Fan wohl bei diesem Selfie. (Bild: PAUL HACKETT)

Teilen führt zu einer Anteilnahme, wenn es innerhalb einer Gruppe von Interessierten geschieht. Es entsteht eine Form von Nähe, die reale Begegnungen nicht ersetzt, aber die Zeit dazwischen überbrückt. Eine Echtzeit-Verbindung, die intakt bleibt, unabhängig von räumlicher Distanz.

Über die Selfiekultur kann nicht gesprochen werden, ohne den Aspekt des Teilens zu berücksichtigen und die Erwartung, die dabei mitschwingt. Natürlich will man sich selbst in einem möglichst guten Licht präsentieren. Wer jedoch unablässig Selbstbildnisse in die Welt hinaus versendet und auf wohlwollende Bemerkungen zum neuen Haarschnitt wartet, verfolgt narzisstische Motive oder arbeitet krampfhaft an einem bestimmten Image. Wer Weltgewandtheit mit kitschigen Sonnenuntergangsbildern und Flughafen-Wartezonen-Selfies demonstriert, geht seinen Empfängern auf die Nerven. Und führt die soziale Funktion der Bilder ins Absurde.

Wird eine kulturelle Praxis zum Massenphänomen, ist die Werbung nicht weit.

Eine Weiterentwicklung dieses Teilens bedeutet es, wenn Bilder mit den sogenannten Hashtags versehen werden. Diese Schlagworte, erkennbar am «#», ergänzen die Schnappschüsse um eine sprachliche Ebene. Und stellen wiederum eine Form der Vernetzung dar. Wer beispielsweise auf Instagram nach #selfie sucht, findet unzählige solche Fotos.

Wird eine kulturelle Praxis zum Massenphänomen, ist die Werbung nicht weit. In vielen Kleiderläden prangt auf den Spiegeln in den Umkleidekabinen ein Schriftzug, der die Kunden auffordert, ein Selfie ihres neuesten Outfits aufzunehmen und online zu veröffentlichen. NGOs versuchen, die Menschen dafür zu gewinnen, mit ihrem Gesicht für eine Sache einzustehen. Das funktioniert manchmal – auf Instagram wimmelt es von #shoeselfies, insbesondere Nike-Träger scheinen ihre Schuhe gerne rumzuzeigen –, meist jedoch nicht. Wer findet schon, dass er in einer Umkleidekabine besonders vorteilhaft aussieht?

Zudem läuft eine solche Aufforderung zum Selfie-Schiessen der ursprünglichen Idee entgegen, selbstbestimmt ein Bild von sich selber zu produzieren. Der Schuss kann sogar nach hinten losgehen. So wollte das New York Police Departement unter dem Hashtag #myNYPD Bilder von zufriedenen Bürgern mit ihrem Freund und Helfer in Blau sammeln. Was tatsächlich geschah, war, dass die Leute auf Twitter Bilder von Polizeigewalt mit diesem Schlagwort versahen.

Erfolgreicher, da vermehrt auf der Strasse anzutreffen, ist ein anderer Versuch, Selfies zu monetarisieren: der «Selfie-Stick». Eine Art Handstativ, in das man sein Handy einspannen kann. So gelingen Selfies noch besser, versprechen die Hersteller. Und dank grösserer Entfernung passen mehr Menschen aufs Bild. Der Stick verstärkt also – wenn man so will – den sozialen Charakter der Selfies. Ob es allerdings so viel attraktiver ist, wenn statt dem Arm eine Metallstange ins Selbstporträt ragt? Der Authentizität ist es jedenfalls abträglich. Und genau das will ein Selfie sein – authentisch.

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Dieser Text wurde bereits vor Veröffentlichung via Twitter zugänglich gemacht, um eine Debatte zur #Selfiekultur anzufachen. Hier kann man sich einschalten.

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