Kein anderes Land der Welt hat so viele Erfahrungen gemacht mit der direkten Demokratie wie die Schweiz. Ansatzweise eine Theorie dazu entwickelt hat bislang einzig der im deutschen Rheinland wie im Kanton Zürich beheimatete Philosoph Friedrich Albert Lange.
Beide waren – in den Worten des «Spiegels» – «Jahrhundert-Männer»: der Hamburger Sozialdemokrat und politische «Macher» Helmut Schmidt (1918–2015) und sein Lieblingsphilosoph, der in Wien aufgewachsene und in London berühmt gewordene Sozialliberale Karl Popper (1902–1994). Schmidt war sich bewusst, dass es zum vernünftigen politischen Handeln «nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie» (Immanuel Kant), und verwies dazu auf Poppers in der neuseeländischen Emigration (1937–1945) verfasstes Hauptwerk «Die offene Gesellschaft».
Die Quelle legitimer politischer Macht
Für Karl Popper ist eine Theorie «ein Netz, das wir auswerfen, um die Welt (gleichsam erkenntnismässig) einzufangen – um sie zu rationalisieren und zu erklären». Theorien helfen bei der Orientierung in einer komplexen Sache oder Wirklichkeit. Sie erklären, bestimmen Wesenskerne und machen Beziehungen, Kausalitäten, Interaktionen und Folgewirkungen deutlich. Schliesslich helfen sie uns, den Wert unserer Erfahrungen und Beobachtungen zu beurteilen und die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. So schrieb Popper in seiner «Logik der wissenschaftlichen Forschung» (1959): «Wir können noch so viele weisse Schwäne beobachtet haben; doch dies erlaubt nicht die Schlussfolgerung, dass alle Schwäne weiss seien.»
1870 war die Demokratie erst ein ganz junges und sehr seltenes Pflänzchen. Ausgedacht hatten sie einige schon vor Jahrhunderten. Doch erst im 18. Jahrhundert begann die «Neue Welt» sich wirklich selbst zu regieren. Tom Paine zeigte, dass Menschen keine Herren oder Könige brauchen, um ihre Lebensumstände zu gestalten. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) beschrieb, dass einzig die Bürger die Quelle legitimer politischer Macht sind, und zeigte diesen, wie sie sich zur Selbstbestimmung organisieren können. Und 1789 machten die Franzosen mit ihrer Revolution klar, dass es ihnen ernst war: Sie stürzten den König und erarbeiteten die erste demokratische Verfassung in Europa. 1830 und 1848 kam es zu weiteren europäischen Völkeraufständen und Versuchen, mit der Demokratie endlich zu beginnen.
«Theorie der demokratischen Republik»
Einigermassen gelungen war dies bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts erst – sehr parlamentszentriert – in Grossbritannien und etwas bürgernäher in der Schweiz. Und doch lebte damals im deutschen Rheinland und im Kanton Zürich ein praktisch engagierter sozialdemokratischer Philosoph, Friedrich Albert Lange (1828–1875), der sich vorgenommen hatte eine «Theorie der demokratischen Republik» auszuarbeiten. Eine Theorie, die zeigen sollte, was Demokratie ist, wie sie am besten eingerichtet wird, weshalb die Menschen sie benötigen und wie sie gestärkt werden könnte.
Lange war ein Mensch mit zwei Seiten, von denen bis heute leider nur die eine, die deutsche und philosophische, im Bewusstsein geblieben ist. Dass er auch eine politisch-praktische und schweizerische zweite Seite hatte, ist leider in der Schweiz vergessen worden. Lange wurde 1828 in Solingen geboren, ging in Duisburg zur Schule, übersiedelte aber schon 1841 erstmals in die Schweiz nach Zürich, da sein Vater an der dortigen Uni die Stelle als Professor für Kirchengeschichte angenommen hatte. Friedrich Albert fand im Gymnasium Kollegen, mit denen er später politisch viel Erfolg haben sollte. Er begann 1847 in Zürich mit dem Studium der Philologie, zog mit dem Vater 1848 aber wieder nach Bonn, wo er sich zum Philosophen und Pädagogen ausbildete und gleichzeitig in der demokratischen Revolution praktisch und journalistisch tätig war.
Lange schrieb gegen den geschichtlichen Determinismus des Marxismus und plädierte für mehr eigenes Engagement.
Als Lehrer in Duisburg vermochte sich Lange über Wasser zu halten. Politisch hatte er sich erst den oppositionellen Liberalen und später der sich organisierenden Arbeiterbewegung angeschlossen. Die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und deren politische Befreiung: Das waren Langes Hauptanliegen. Dazu gelangen ihm 1865 und 1866 zwei Werke, «Die Arbeiterfrage» und die «Geschichte des Materialismus», die mehrfach aufgelegt wurden und bis zur ersten deutschen Demokratie in der Stube von Hunderttausenden von deutschen Sozialdemokraten zu finden waren.
In diesen Büchern wandte sich Lange gegen den geschichtlichen Determinismus seiner marxistischen Genossen und plädierte für mehr eigenes Engagement der Arbeiterinnen und Arbeiter, wenn deren Befreiung gelingen sollte: «Sollte das Volk wirklich sich selbst regieren, so muss seine geistige Kraft und seine Einsicht mehr und mehr entwickelt werden. Ohne Bildung des Volkes ist die politische Freiheit nur ein Trugbild», schrieb er beispielsweise und betonte, dass die Arbeiterschaft sich dabei vom Staat unterstützen, aber nie auf ihn allein verlassen dürfe.
Leitartikel gegen die Klüngelherrschaft
Mitte der 1860er-Jahre verlor Lange seiner preussischen Gegner wegen seine Lehrstelle. Ein ehemaliger Mitschüler aus dem Gymnasium, der mittlerweile zum Verleger des Winterthurer «Landboten» gewordene Salomon Bleuler, holte Lange darauf als zweiten Redaktor zum Kampfblatt der aufkommenden Zürcher demokratischen Bewegung. Hier konnte sich Lange entfalten. Einerseits verfasste er täglich Leitartikel zur Vertiefung und Popularisierung der revolutionären Kernidee der Zürcher Bewegung: die Verfassung der Volksrechte sowie die Ergänzung des Wahlrechtes durch das Recht auf Initiative und Referendum. So schrieb Lange am 3. Januar 1868 im «Landboten»: «Unser ausgesprochenes Ziel ist ja, die Klüngelherrschaft zu beseitigen, die neue Geldaristokratie zu stürzen und an ihre Stelle die wahre ehrliche Volksherrrschaft zu setzen, die Demokratie im besten Sinne, bei welcher Alles für, aber auch Alles durch das Volk geschieht.»
Friedrich Albert Lange war aber auch Kantilehrer in Winterthur, Stadtrat, einer der einflussreichsten Verfassungsräte, Kantonsrat, Erziehungsrat, Gründer des Konsumvereins und kurz sogar Professor. Als solcher wurde er 1872 nach Marburg berufen, wo er wiederum als Philosoph zu den Mitbegründern der «Neukantianer» gehörte. Als solcher ist er vielen in Erinnerung geblieben; zu seiner «Theorie der demokratischen Republik» kam er freilich nie, da er 1875 viel zu früh in Marburg verstarb. Seine über 200 Leitartikel für den «Landboten» enthalten aber unzählige Bausteine dafür, die freilich erst wieder richtig zusammengesetzt werden müssen.