Sollen Tankstellen-Shops rund um die Uhr ihr gesamtes Angebot verkaufen dürfen? Darüber stimmen wir am 22. September ab. Im Grunde geht es aber um sehr viel mehr, wie das Streitgespräch zwischen Nationalrat Daniel Stolz und Gewerkschafter Hansueli Scheidegger zeigt.
Sonntagnacht, kurz nach 22 Uhr. Die Stadt ist still, das Kleinbasel dunkel. Die Buvetten sind schon lange zu, bei der K-Bar haben wir kein Glück und für das «Klingeli» ist es noch zu früh. Schliesslich landen wir auf der Terrasse des Hotel Basilisk. «Das ist doch ein Zeichen, dass der Markt funktioniert», sagt FDP-Nationalrat Daniel Stolz zur Begrüssung.
24-Stunden-Gesellschaft
Der Schwerpunkt der Ausgabe vom 30. August 2013 widmet sich der Beschleunigung unserer Gesellschaft. Leben wir bereits in einer 24-Stunden-Gesellschaft? Müssen alle Waren und Dienstleistungen zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar sein? Wie stark soll sich der Staat in unser Konsumverhalten einmischen? Diese Fragen beschäftigen uns in der Ausgabe vom 30. August.
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Stolz sitzt im Ja-Komitee zur Abstimmung über das Arbeitsgesetz, das mit dem Slogan «Bratwürste legalisieren!» die Sortimentsbeschränkung in Tankstellen-Shops aufheben will. Heute dürfen in diesen Shops zwischen 1 und 5 Uhr nur Dinge verkauft werden, die sofort verzehrt werden können. Die Gewerkschaften, an diesem Abend in der Person von Hansueli Scheidegger von der Unia vertreten, wehren sich die Ausweitung des Sortiments. Sie sehen die Abstimmung als Startschuss einer eigentlichen Deregulierungswelle und wehren sich gegen die 24-Stunden-Gesellschaft.
Herr Scheidegger, warum sollen wir nachts um 1 Uhr keine Bratwürste kaufen dürfen?
Hansueli Scheidegger: Die Bratwurst-Kampagne ist eine schlechte Kampagne. Niemand versteht sie. Es geht den Bürgerlichen nur um eines: Immer mehr Liberalisierung. Wir hatten in den vergangenen Jahren 13 Abstimmungen im Zusammenhang mit der Verlängerung von Ladenöffnungszeiten, 12 gingen zu unseren Gunsten aus. Das Volk will nicht längere Öffnungszeiten. Dennoch haben die Bürgerlichen schon die nächsten Vorstösse in der Pipeline. Das ist unzulässig.
Daniel Stolz: Unzulässig? Dann hätten wir heute noch kein Frauenstimmrecht. Ausserdem geht es in der aktuellen Abstimmung nicht um Öffnungszeiten. Sondern ausschliesslich darum, ob man neben Cervelat auch Bratwurst kaufen darf. Oder ob man das Bier einzeln oder in einer Verpackung mitnehmen darf.
Hansueli Scheidegger: Es geht um viel mehr: Um die stets steigende Belastung der Verkäuferinnen und Verkäufer. Dabei sind die verlängerten Öffnungszeiten gar kein Bedürfnis: Coop und Migros müssen Aktionen machen, damit jemand in den Abendverkauf kommt. Fakt ist: Die Grossen machen immer mehr Umsatz auf mehr Verkaufsfläche und das mit weniger Verkaufspersonal.
«Wer entscheidet denn, was nötige und was unnötige Arbeit ist? Wer masst sich das an?» Daniel Stolz
Müsste man dann nicht eher bei den Arbeitsbedingungen ansetzen?
Hansueli Scheidegger: Auch. Vor allem auch bei jenen, die gezwungen sind, in Randzeiten und der Nacht zu arbeiten. Wir reden heute aber über unnötige Arbeiten in der Nacht. Man muss nicht immer alles zu jeder Zeit haben.
Daniel Stolz: Unnötige Arbeit? Und wer hat Ihnen denn diesen Espresso rausgelassen?
Hansueli Scheidegger: Es ist erst halb Elf. Die Nachtarbeit beginnt – auch dank den Bürgerlichen – erst um 23 Uhr.
Daniel Stolz: Wenn es nach Ihnen ginge, dann würde man in der Stadt die Trottoirs schon um 20 Uhr hochklappen. Viel schlimmer ist jedoch: Wer entscheidet denn, was nötige und was unnötige Arbeit ist? Wer masst sich das an? Im Mittelalter hiess es: Stadtluft macht frei. Und tatsächlich entstanden rund um die Märkte Städte, in denen mehr Freiheit als auf dem Land möglich war und dadurch wurde der Fortschritt ermöglicht. In den vergangenen fünfzig Jahren hat sich unsere Lebenssituation total verändert. Wir richten uns nicht mehr nach dem Sonnenauf- und -untergang, wir haben mehr Wohlstand und können es uns auch leisten, noch nachts um halb elf einen Espresso zu trinken. Dazu kommt der gesamte technologische Fortschritt, der uns diesen Wohlstand erst ermöglich hat.
Hansueli Scheidegger: Aber ist denn wirklich alles nötig? Wo läuft um 2 Uhr morgens noch eine so heftige Grillparty, dass man unbedingt noch eine Bratwurst dazu braucht? Gerade Bratwürste! Die sind so lange haltbar, da muss es doch möglich sein, dass man die schon am Tag zuvor postet.
Daniel Stolz: Sie sind anmassend, Herr Scheidegger. Wer sind Sie, dass Sie entscheiden können, wer zu welcher Zeit welches Bedürfnis hat?
Hansueli Scheidegger: Natürlich ist die Gesellschaft in stetiger Veränderung, aber dennoch gibt es heute schon Grundsätze, auf die wir uns verständigt haben. Möchten Sie denn, dass am Sonntag gebaut wird? Dass der Lärm gar nie mehr aufhört? Der Mensch hat ein Recht auf eine Pause.
Daniel Stolz: Die er sich selber verordnen kann. Ich stelle mein Natel manchmal auch ab – muss dann einfach mit den Konsequenzen leben. Aber grundsätzlich möchte ich selber entscheiden, wenn ich eine Pause brauche.
Hansueli Scheidegger: Das können Sie nur, weil Sie in einer privilegierten Position sind. Eine Verkäuferin kann sich nicht selber Pausen gönnen; sie ist von ihrem Chef und dem Unternehmen abhängig. Die Logik der Unternehmen ist klar: Sie wollen immer mehr und immer länger verkaufen.
«Wenn man ein Angebot schafft, wird es auch genutzt. Das heisst aber nicht immer, das es einer zwingenden Notwendigkeit entspricht.» Hansueli Scheidegger
Und das mit Erfolg. Am Sonntag ist der Migros am Bahnhof gestossen voll.
Hansueli Scheidegger: Wenn man ein Angebot schafft, wird es auch genutzt. Das heisst aber nicht immer, das es einer zwingenden Notwendigkeit entspricht.
Sehen wir hier den grundsätzlichen Unterschied zwischen Ihnen beiden? Die Linke möchte dem Menschen erziehend helfen und ihn auf den richtigen Weg bringen; die Bürgerlichen möchten ihm möglichst viele Freiheiten geben?
Hansueli Scheidegger: Den Bürgerlichen geht es nicht um die Freiheit. Es geht ihnen darum, möglichst viel Geld zu verdienen! Die Arbeitnehmenden möchten arbeiten, um zu leben. Und nicht umgekehrt. Das sind total unterschiedliche und nicht kompatible Interessen. Und hier braucht es die Gewerkschaften – sonst wäre Kinderarbeit heute wohl noch erlaubt. Ginge es nach den Bürgerlichen würden wir wohl bald alle auch nur noch Schicht arbeiten – weil das mehr Geld für die Unternehmen bringt.
Daniel Stolz: Ohne Schichtarbeit würden wir viele Arbeitsplätze verlieren. Wir leben in einer globalisierten Welt – ob das uns gefällt oder nicht – und ohne Schichtarbeit wären wir in dieser Welt nicht mehr konkurrenzfähig. Es ist eben doch eine Frage des Menschenbildes: Ich will mir von niemanden, nicht von der Politik, nicht von der Kirche oder sonst jemandem vorschreiben lassen, wann ich was zu konsumieren habe. Der Schiedsrichter in dieser Frage ist einzig der Souverän in der direkten Demokratie.
Sind wir denn schon in einer 24-Stunden-Gesellschaft angekommen?
Hansueli Scheidegger: In der Schweiz gibt es sie noch nicht. Aber es gibt ein gewisses Risiko, dass wir uns in diese Richtung entwickeln. In gewissen Bereichen macht das Sinn, in anderen nicht. Der Anteil der Bevölkerung, der Nachtarbeit leisten muss, hat in den vergangenen zwanzig Jahren um gegen fünfzig Prozent zugenommen. Und das betrifft ganz sicher nicht nur absolut notwendige Arbeiten.
Daniel Stolz: Wir erleben eine Flexibilisierung der Gesellschaft und eine veränderte Verfügbarkeit. Aber wir leben noch nicht in einer 24-Stunden-Gesellschaft. Wir sitzen hier auf der Terrasse des Hotel Basiliks. Abgemacht hatten wir zuerst an der Buvette und dann in der K-Bar – beide Lokale waren geschlossen. Das zeigt doch: Auch in einer Zeit der totalen Verfügbarkeit richten sich Öffnungszeiten nach einem tatsächlichen Bedürfnis. Wenn es sich nicht rechnet, dann macht eine Bar oder ein Laden auch nicht auf.
Hansueli Scheidegger: Dennoch ist die Entwicklung gefährlich. Wenn wir am Schluss alle in drei Schichten rund um die Uhr arbeiten, wird es keinen Raum für Privates, für die Familie geben. Die sozialen Momente leiden unter dieser Entwicklung, auch unser Bedürfnis nach Ruhe und nach Pause. Wir dürfen nicht alles der Effizienz opfern, wir müssen auch an den Menschen denken.