Ein Intellektueller wider Willen

Lukas Bärfuss könnte die Schweizer Leitstimme sein in der Krise. Dabei will er nichts weniger sein als das. 

«Heute ist es bereits ein subversiver Akt, dass man für sich ein zufriedenes Leben lebt»: Theaterautor Lukas Bärfuss. (Bild: Christian Schnur)

Lukas Bärfuss könnte die Schweizer Leitstimme sein in der Krise. Dabei will er nichts weniger sein als das. 

Am Schluss ist Lukas Bärfuss’ Zorn. Er wird auf der Bühne des Wenkenhofs in Riehen sitzen, geladen zur grossen Verhandlung des Kapitalismus im Rahmen der sechsten Wenkenhof-Gespräche. Er wird ihnen nichts durchgehen lassen.

Vorher tritt der TV-Mann Patrick Rohr an ihn heran, zur Vorbesprechung auf der prächtigen Terrasse des Wenkenhofs. Rohr ist der Moderator der Diskussion. Er geht mit Bärfuss den Ablauf durch, die Besetzung der Runde, wann welche Themen angeschnitten werden. Bärfuss lacht irgendwann. Es sei doch verrückt, dass ausgerechnet er mit seiner Geschichte plötzlich der Wertkonservative sei. Bärfuss, der nach der Primarschule den eidgenössischen Bildungsweg verliess, einmal Tabakbauer war und einmal Eisenleger, der heute als gefeierter Dramatiker die ­Gesellschaft auf ihre Risse abtastet und diese mit Leibeskraft aufdrückt – ­dieser Bärfuss soll ein Bewahrer sein?

Moralisch überlegen

Rohr ist begeistert: «Das müssen Sie unbedingt in der Diskussion wiederholen.» Bärfuss wird nichts dergleichen tun. Aber dafür haben sie ihn gebucht, als besorgten und gleichsam moralisch überlegenen Intellektuellen, der den Leuten im Sturm des Systemzerfalls zuruft, woran sie sich festhalten können.

Rohr wird ihn so ankündigen: «Einer der letzten Intellektuellen im Land, der sich nicht zurückzieht und schweigt. Bärfuss ist wie Frisch und Dürrenmatt.» Frisch und Dürrenmatt – drunter gehts nicht. Dabei will Bärfuss eines nicht sein: eine Leitfigur.

«Die so genannten Leitfiguren haben in letzter Zeit keine gute Arbeit geleistet», sagt er im Gespräch über das, was er nicht sein kann, aber sein soll. «Heute will jeder ein Experte sein. Und dabei versteht niemand, was mit uns geschieht. Jene, die behaupten, sie hätten den Durchblick, stellen sich als die grössten Dilettanten heraus. Ich finde es daher wichtiger und produktiver, wenn ich darauf hinweise, warum ich nicht weiss, wie es funktioniert. Darüber will ich sprechen – weiter Fragen stellen und nicht so tun, als hätte ich eine Erklärung.»

Die monomane Seite der Kunst

Die Idee des Intellektuellen als Leitstimme hält Bärfuss für eine historische Episode. Er nennt es eine Ano­malie nach dem Zweiten Weltkrieg. Er begegnet schon dem Titel «Intellektueller» mit Skepsis, Bärfuss spricht lieber von sich als Künstler.

Als Künstler, sagt er, habe er eine Verantwortung vor allem seiner Kunst gegenüber. «Kunst ist nicht immer so­zialverträglich, sie folgt eigenen Regeln und hat mitunter andere Ziele als das pflegliche Miteinander.» Bärfuss hält es geradezu für gefährlich, wenn Künstler ihre Ideen in die Politik tragen: «Einige der schlimmsten Dik­tatoren waren ­verhinderte Künstler. Kunst hat eine monomane Seite, die nicht Politik werden sollte.»

Von Bürden freihalten

Er hat für sich eine Trennlinie ge­zogen. Bärfuss der Künstler ist ein anderer als Bärfuss der Bürger oder der Familienvater. Als solche sieht er eine Verpflichtung, sich Gedanken zu machen und zu überprüfen, ob das Leben so noch stimmt.

Als Schriftsteller will er sich von derartigen Bürden freihalten: «Ich habe ein Problem, wenn jemand den Intellektuellen eine Verantwortung übergibt, die er selber nicht annehmen will. Jeder einzelne ist verantwortlich für das politische Zusammenleben.»

Gleichwohl verschwimmen auch beim Künstler Bärfuss die Grenzen. Er hat oft Position bezogen und hoch­politische Stücke geschrieben über die Sexualität von Behinderten, die Schuld der Schweizer Entwicklungshilfe im Ruanda­krieg oder die Kultur des Vergessens in der Aufarbeitung der Schweizer Rolle im Zweiten Weltkrieg. Es wird auch bald widersprüchlich, wenn sich Bärfuss als Bürger zu Wort meldet, weil sich seine Autorität als Kommentator aus seinen Werken speist.

Offene Diskussionen

Bärfuss hat einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden: dass er sich zwar in die grossen laufenden Auseinandersetzungen einmischen will – aber das unterhalb der moralischen Höhenlage als Autor, indem er etwa Diskussionsreihen organisiert wie jene im Zürcher Schauspielhaus mit dem Titel «Warten auf die Revolution».

«Ich spüre heute wieder mehr das Bedürfnis nach Präsenz. Die Menschen suchen den direkten Austausch. Und sie scheinen bereit, über alles zu sprechen. Was ist Erfolg, was Glück? Was verstehen wir unter Wohlstand, und lässt sich Armut nicht auch als Perspektivlosigkeit definieren? Das hat es ganz lange nicht gegeben, dass sich auf einer breiten Ebene eine Diskussion einstellt über die Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens.»

Die Wenkenhof-Gespräche sind dann nicht die Behandlung des Elementaren, dafür sind sie zu abgehoben. Aber sie sind sinnbildlich dafür, wie sich der Zeitgeist verändert. Dass nun auch in Salonatmosphäre der Kapitalismus verworfen wird, wofür früher allenfalls das Jugendhaus Thun infrage kam, wie Bärfuss belustigt feststellt.

Die Wut des Bürgers

Doch für Bärfuss werden sie zum Ort der Gegenüberstellung, wo sich die Wut des Bürgers mit der des Künstlers vermengt. Die Ursache liegt im Auftritt des HSG-Professors Franz Jaeger, der gebeten worden war, vor Beginn der Debatte erst mal die Fakten aufzutischen. Jaeger ist Ökonom, einer der ­alles weiss, was er schon immer gewusst hat. Der Vertreter eines Systems, das sich nur scheinbar wandelt.

Jaeger trägt einen einem Trachtenjanker nachempfundenen Kittel. Raues Garn, Stehkragen – es wird urchig in der Reithalle des Wenkenhofs. Jaeger steht unter Strom. Er lässt Zahlenreihen und steigende Kurven projizieren: wachsendes Schweizer Bruottinlandprodukt, geringe Staatsverschuldung, Spitzen­position im Innovationsindex. Er springt von der Bühne in die Zuschauerreihen, sucht die Blicke, er wirkt wie ein evangelikaler Fernsehprediger.

Seine Botschaft: Solange es uns gut geht, wir hart an uns arbeiten und nicht in Selbstzufriedenheit verfallen, ist alles in bester Ordnung.
Er schliesst mit der Anekdote vom Wiener Taxifahrer, der mit seinem Taxi an den Strassenrand fuhr, um sich den HSG-Professor in Ruhe anzuschauen. «Sie kommen aus dem Paradies, also wollte ich sehen, wie ein Paradiesvogel ausschaut», habe er ihm gesagt.

Jaeger lacht los, ein alter Komikertrick, die eigenen Witze selber in Gang zu lachen; dann schreitet er, elektrisiert von der eigenen Rede, die Reihe seiner Mitdis­kutanten ab, bleibt bei Bärfuss stehen und spricht in den Saal hinaus: «Der Herr Schriftsteller wird mir dann schon noch die Leviten lesen.»

Die Abrechnung

Bärfuss verzieht keine Miene. Auf Jaeger wartet mehr als eine Strafpredigt. Bärfuss widerspricht ihm bis auf den Grund: Jaeger denke nicht an die Menschen, nur an Zahlen, weil er die Menschen als Nummern verstehe. Er stellt Jaeger als Vertreter einer neoliberalen Täuschungslehre hin, die jedes Individuum zum Wirtschaftssubjekt macht, weil sie von ihm das stete Streben erwartet, das angeblich mit Glück und Wohlstand belohnt wird. «Dieses Versprechen wird längst nicht mehr eingelöst.» Man könne so hart arbeiten, wie man wolle – ohne Garantie auf irgendetwas. Das Streben – oder sparen – habe vor allem den Zweck, den Wohlstand einiger weniger zu mehren. «Heute ist es bereits ein subversiver Akt, dass man für sich ein zufriedenes Leben lebt», sagt Bärfuss.

So sehr er sich nicht in die Rolle der Leitstimme drängen lassen will, so wenig will sich Bärfuss eine Unzufriedenheit vorschreiben lassen. Man soll sich ja nichts erzählen lassen, ist vielleicht seine einzige Botschaft. Eine eigenwillige Auffassung für einen Erzähler. 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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