Ein Jahr ohne das Wort Masseneinwanderungsinitiative

Unzählige Male bin ich über den Begriff gestolpert, fast jedes Mal habe ich ihn falsch geschrieben. Bitte, bitte verschont mich 2016 mit dem manipulativen Wort Masseneinwanderungsinitiative.

Masseneinwanderungsinitiative – der Begriff prägte die politischen Debatten. Wann ist damit endlich Schluss?

(Bild: Nils Fisch)

Unzählige Male bin ich über den Begriff gestolpert, fast jedes Mal habe ich ihn falsch geschrieben. Bitte, bitte verschont mich 2016 mit dem manipulativen Wort Masseneinwanderungsinitiative.

Seit Beginn des Jahres enthielten 4276 Artikel den Begriff «Masseneinwanderungsinitiative», allein ich habe das Wort 27 Mal in einem Artikel vollständig ausgeschrieben. Es reicht!

Seit bald zwei Jahren tyrannisieren uns Politiker mit der ungelenken Wortschöpfung – die nebenbei bemerkt semantisch falsch ist. Denn korrekt wäre die Bezeichnung Zuwanderungsbeschränkungsinitiative, was noch umständlicher zu schreiben wäre. 

Unzählige Male bin ich über das Wort gestolpert, fast jedes Mal habe ich mich vertippt.

Gab es je ein ungeschmeidigeres Wort, das die Politik dominierte? Wahrscheinlich nicht. Spekulationsstoppinitiative, Wiedergutmachungsinitiative – selbst Durchsetzungsinitiative klingt beinahe lieblich neben Masseneinwanderungsinitiative.

Man mag es als positives Zeichen werten, wenn eine Partei mit einem elfsilbigen Wort die politische Agenda diktiert, statt mit knappen, vereinfachenden Begriffen zu operieren. Hier wird die Komplexität der Sprache bewahrt.

Das Wort Masseneinwanderungsinitiative ist nicht nur ein unästhetischer, sondern auch ein manipulativer Begriff.

Doch die Wortkombination manipuliert unser Denken. Spätestens seit der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure die Vorstellung von konstruierter Wirklichkeit entwickelte, wissen wir: Sprache konstituiert unser Denken.

Im Falle der Masseneinwanderungsinitiative handelt es sich um eine Signifikanten-Koppelung, so würde es Saussure wohl ausdrücken. Die Vorstellungen von «Massen» und «Einwanderern» werden verknüpft. Jedes Mal, wenn wir den Begriff lesen, sehen wir die Horden von Migranten vor unserem inneren Auge. Und je mehr wir den Begriff verwenden, desto tiefer setzt sich seine Bedeutung in unseren Köpfen fest.



 

Die Initiative ist hinterhältig – nicht nur wegen der manipulativen Wirkung, sondern auch, weil sie einen unauflösbaren Widerspruch in sich trägt. Die Zuwanderung im gesamtwirtschaftlichen Interesse begrenzen –, das ist die viel zitierte Quadratur des Kreises, an der Politiker bisher scheiterten.

Kein Wunder kommt die Umsetzung derart zäh voran. Den Lösungsansatz, den der Bundesrat Anfang Dezember präsentierte, haben Fachleute bereits vor einem Jahr vorgeschlagen. Die Debatte dreht sich im Kreis – und beinahe alle politischen Diskussionen kreisen um die Masseneinwanderungsinitiative.

Polit-Ressort verlassen

Auch im nächsten Jahr ist keine nachhaltige Umsetzung in Sicht. Ein neues Wort prägt derweil den Diskurs: die Schutzklausel. Die Wortverbindung weckt die Assoziation, wir bräuchten Schutz vor einwandernden Massen. Immerhin hat die «Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative» damit ausgedient.

Dennoch wird der Begriff der Masseneinwanderungsinitiative bestimmt bis 2018 die Schlagzeilen prägen. Dann ist es vielleicht die Durchsetzungsinitiative zur Masseneinwanderungsinitiative – puh. 

Nun gut. Der unaussprechliche Begriff mag seine Berechtigung haben – oder auch nicht. Einen Wunsch habe ich jedoch für das Jahr 2016: ein Jahr ohne das Wort Masseneinwanderungsinitiative. Und wenn mir das Wort doch vor die Nase kommt, wechsle ich in das Kulturressort – sehr wahrscheinlich.

(Mein persönlicher MEI-Counter liegt mittlerweile bei 38). 

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Zum Jahresende formulieren wir Wünsche für das Jahr 2016. Am 31. Dezember erscheint die TagesWoche als Wunschheft. Mehr Wünsche gibts im Dossier zum Thema.

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