Ein Leben im Rotlichtviertel

In unserer Kleinbasel-Woche besuchen wir Lotti Ramseier (79) in der Alterswohnung an der Ochsengasse mitten im Rotlicht-Quartier.

Lotti Ramseier lebt in einer Alterswohnung mitten im Rotlichtviertel – und das gern. (Bild: Cédric Christopher Merkli)

Die 79-jährige Lotti Ramseier wohnt in einer Alterswohnung. Das allein wäre nicht speziell, viele ältere Menschen leben in Alterswohnungen. Aber: Lotti Ramseier wohnt nicht irgendwo, sondern an der Ochsengasse – mitten im Rotlichviertel. Der TagesWoche hat sie aus ihrem Alltag in diesen zwei Welten erzählt.

«Es war immer mein Traum, in der Höhe zu wohnen; nicht auf dem Bruderholz, sondern einfach hoch oben. Als ich meine jetzige Wohnung zum ersten Mal sah, ist der Groschen sofort gefallen. Mein Herz raste, ich wusste: Hier will ich leben. Mein Lebenspartner und ich wohnten vorher ganz in der Nähe am Claraplatz. Er zügelte unsere Sachen mit dem Leiterwagen. Seit zwölf Jahren leben wir nun im fünften Stock der Alterssiedlung an der Ochsengasse – mitten im Kleinbasler Rotlichtviertel.

Früher hatte ich Hemmungen, in dieses Quartier zu gehen. Die Huren auf der Strasse und das Milleu waren mir unheimlich. Inzwischen habe ich keine Angst mehr. Wenn es dunkel ist, gehe ich kaum aus dem Haus. Und komme ich doch einmal spät heim, gehe ich mitten auf der Strasse. Wenn mich einer anfallen würde, hätte ich sofort Hilfe von einer der Frauen, die vor den Bars auf Kunden warten. Wir grüssen einander, nicken uns zu. Manche lächeln mich an, andere schauen weg. Wir sagen uns «Grüezi». Richtig sprechen geht aber nicht: Die Frauen können kaum Deutsch – ich hingegen spreche nur Deutsch.

Sexshop, Videokabinen, Wollen-Laden

Ich bin kurz vor dem Millennium hierher gezügelt. Wir feierten Silvester auf der Dachterrasse der Altersiedlung – es war grossartig! Die Sicht auf das Feuerwerk, einmalig! Von meiner Wohnung aus sehe ich in die Zimmer der Prostituierten, wobei sie meistens den Vorhang ziehen. Früher war bei uns im Parterre ein Sexshop einquartiert. Mit der Verkäuferin bin ich sehr gut ausgekommen, sie hat mir immer Heftli geschenkt – Frauenheftli natürlich. Danach zog für kurze Zeit ein Laden mit Kabinen ein, das war kein Stützli-Sex-Angebot, es wurden nur Filme gezeigt. Der Mann, der die Kabinen betreute, war auch sehr nett.

Jetzt befindet sich ein Wollen-Laden dort. Ich finde es wunderbar, dass wir nun auch etwas Schönes hier haben. Es läuft noch etwas harzig, die Besitzerin hat erst wenig Laufkundschaft. Ich hoffe, das ändert sich noch. So viele Wollen-Läden gibt es nicht und die Auswahl hier ist riesig. Die meisten Leute, die hier vorbeigehen, sind aber Männer – und die kommen nicht wegen der Wolle. Am Tag der Eröffnung war ich wegen einer Hüftoperation im Spital und mein Partner ging allein hin. Er kaufte ein paar Wollenknäuel. Seither gehen wir immer wieder im Wollen-Lädeli vorbei und plaudern mit der Besitzerin.

Mitten im Fasnachtsviertel

Auch mein Partner wird hie und da von den Frauen auf der Strasse angesprochen. Einmal stand ich auf dem Balkon, als eine Frau auf ihn zu ging. Er zeigte zu mir hinauf – und sie entschuldigte sich. Manchmal tun uns die Prostituierten leid, zum Teil sind sie sehr jung und sehen unglücklich aus. Als ich vom Spital entlassen wurde, traf ich eine von ihnen in der Migros an. Sie sprang auf mich zu und grüsste mich. Das war nett.

Im Haus haben wir einen Fasnachtskeller; ich liebe Fasnacht. Am liebsten ist es mir, wenn im ganzen Vorraum Larven vor den Briefkästen stehen – und auf der anderen Seite Trommeln. Solche Ereignisse und die Sicht über die Dächer von Basel machen meine Wohnung einzigartig. Ich habe richtig entschieden, vor zwölf Jahren, als der Groschen gefallen ist.»

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