Zuerst besorgt sich der Nationalrat auf Vorrat eine DNA-Datenbank für «gewisse Asylbewerber» und debattiert danach auf dem Niveau der 50er-Jahre die Volksinitiative «Abtreibung ist Privatsache». Was für ein Morgen im Bundeshaus.
Wahrscheinlich hat Balthasar Glättli kürzlich einen Rhetorikkurs besucht und ist dabei an einen Kursleiter geraten, der zu einem besonders forschen, nein, was sagen wir: zu einem aggressiven Stil geraten hat. Als es vor ein paar Wochen um die Revision des Bürgerrechts ging, gab er als Fraktionssprecher der Grünen den gehässigen Ton vor, der die ganze Debatte bestimmen sollte.
Am Mittwochmorgen war das nicht anders. «Nach dem Abschreibe-Doktor hat die SVP nun auch die Abschreibe-Politik erfunden!», rief er in den Saal und verknüpfte damit (argumentativ etwas wacklig) die Kontroverse um Nationalrat Christoph Mörgelis Doktorarbeiten und die von der SVP falsch gelesenen Statistik-Zahlen aus dem Asylwesen. Bemerkenswert auch sein Spruch über den schlafenden SVP-Präsidenten. Weil zuerst Fraktionschef Adrian Amstutz sprach und nicht Toni Brunner, vermutete ihn Glättli am Ausschlafen. Und musste sich danach für seine Bemerkung entschuldigen – die Absenz war angekündigt.
Henu. Auch dieses Mal schaffte es Glättli mit seinem Votum zu Beginn der ausserordentlichen Session unter dem prosaischen Titel «Schengen/Dublin-Realität: Freie Fahrt für Kriminelle und Asylmissbrauch» auf das gleiche Empörungs- und Ausrufezeichenniveau wie die SVP-Sprecher nach ihm. «Es isch gnue Heu dunne! Schengen ist gescheitert! Aber hier drinnen wird das Problem nicht ernst genommen!» (Toni Brunner, als er dann doch noch auftauchte). «Solange es in der Schweiz etwas zu holen gibt, holen die etwas! Hört auf mit dem Schengen-Märchen!» (Der unverwüstliche Erregungspolitiker Hans Fehr.) «Die Sicherheit der Bevölkerung ist nicht mehr gewährleistet!» (Andrea Geissbühler, Polizistin).
«Wie stellen Sie sich das vor?»
In der Mitte gab man der SVP teilweise recht – geisselte aber gleichzeitig die ewige Konzentration auf das Thema der kriminellen Ausländer. Die von der SVP geforderte ausserordentliche Session diene nur Wahlkampfzwecken. «Lösungsorientierte Sachpolitik ist das nicht», sagte BDP-Präsident Martin Landolt.
Bereits zu Beginn der Debatte war klar, dass die Kernforderung der SVP, die Kündigung von Schengen/Dublin, keine Chance haben würde. «Wie stellen sie sich das vor? 1,3 Millionen Grenzübertritte haben wir pro Tag. Wie wollen sie die alle kontrollieren?» fragte Bundesrätin Simonetta Sommaruga und räumte gleichzeitig ein, dass das System Schengen nicht perfekt sei. Aber mit der zunehmenden, grenzüberschreitenden Kriminalität habe Schengen nichts zu tun. Das sei vielmehr ein Zeichen unserer Zeit. «Wir werden immer mobiler. Und auch die Kriminellen werden immer mobiler.» Gegen grenzüberschreitende Kriminalität gebe es nur ein Mittel: grenzüberschreitende Polizeiarbeit. Und die sei bei einer Kündigung des Schengen-Vertrags grundsätzlich infrage gestellt.
Die entsprechende Motion wurde mit 127 zu 55 Stimmen bei 7 Enthaltungen abgelehnt. Dennoch liess es sich der Nationalrat nicht nehmen, bei der Abstimmung über die über 30 Vorstösse die eine oder andere Verschärfung im Ausländerbereich zu bewilligen. Die aussergewöhnlichste und rechtsstaatlich wohl einigermassen bedenkliche: In Zukunft sollen «gewisse Kategorien von Asylbewerbern» präventiv in einer DNA-Datenbank gespeichert werden. Ohne Verdachtsmoment. Sondern nur aufgrund ihrer Ethnie. Verfasser der Motion war CVP-Präsident Christoph Darbellay, der seine Big-Brother-Datenbank damit begründete, dass seit dem arabischen Frühling in verschiedenen Kantonen die Kriminalität von Asylbewerbern zugenommen habe. Und dass DNA-Tests kostengünstig seien.
Es gab auch lustige Momente an diesem Morgen. Alt-Bundesrat Christoph Blocher fragte seine Nachfolgerin Eveline Widmer-Schlumpf, warum man in der Statistik der Grenzkontrollen nicht auch jene Fälle aufführe, die man nicht erwische: «Das würde das Volk interessieren!» Widmer-Schlumpf gab zurück, spröde wie nur sie es kann und kühl bis ins Herz: «Meines Wissens hat man das von 2004 bis 2007 ebenfalls nicht gemacht.» Gelächter im Saal. Oder als Simonetta Sommaruga die Kündigung der Schengen-Verträge als «absolute Schnapsidee» bezeichnete. Eine Wortkombination, die aber so gar nicht zum öffentlichen Auftritt der Justizdirektorin passt. Lustig war auch, als Sommaruga auf die SVP-Frage, warum Grossbritannien ohne Schengen leben könne, sagte: «Weil Grossbritannien eine Insel ist.» Oder als Toni Bortoluzzis Gesundheitszustand öffentlich zur Debatte stand und sich der versammelte Nationalrat ziemlich unverhohlen über Bortoluzzis Bauchumfang amüsierte.
Ein Flirt kann Folgen haben
Und damit zur Debatte über die Volksinitiative «Abtreibung ist Privatsache», die Abtreibungen künftig aus dem Grundversicherungs-Katalog nehmen will. Die Frauen (und nicht der schwängernde Mann) sollen nach dem Willen der Initianten Abtreibungen künftig aus der eigenen Tasche bezahlen. Weil: Verantwortung. «So ein Flirt kann Folgen haben», sagte SVP-Nationalrätin Yvette Estermann wissend, «und darüber muss man sich vorher im Klaren sein.»
SVP-Mann Toni Bortoluzzi schwadronierte über Verantwortung und die Erhaltung des Lebens und allen war klar, dass es in diesem Saal heute nicht darum geht, wie die Finanzierung von Abtreibungen geregelt werden soll, sondern um die Frage der Abtreibung an sich. Und so debattierten unsere Volksvertreter an diesem April-Morgen im Jahr 2013 ein Thema aus den 70er- und 80er-Jahren. Entschieden wird am Nachmittag, eine Ablehnung ist wahrscheinlich.
Um 13 Uhr klingelte es zur Mittagspause. Die Sitzung wird am Nachmittag fortgesetzt.