Ein Museum gegen die Angst

In Italien wächst der Widerstand gegen die organisierte Kriminalität. Immer mehr Ladenbesitzer und Unternehmer weigern sich, Schutzgeld zu bezahlen. Auch in Kalabrien, wo das Museo della ’ndrangheta das Zentrum des zivilen Aufstands bildet.

Grenzenloser Ideenreichtum: Selbst hinter Pizzaöfen wie hier in Platì, der Hochburg der ’Ndranghetta, wurden Fluchttunnels und Verstecke eingerichtet. (Bild: Simone Cerio/Parallelozero)

In Italien wächst der Widerstand gegen die organisierte Kriminalität. Immer mehr Ladenbesitzer und Unternehmer weigern sich, Schutzgeld zu bezahlen. Auch in Kalabrien, wo das Museo della ’ndrangheta das Zentrum des zivilen Aufstands bildet.

Auf dem Kleber an der Windschutzscheibe des museumseigenen Mazda-Kombis steht gut sichtbar die Aufschrift «Vom Staat konfisziertes Mafiaeigentum». In den engen Stras­sen Reggios, der mit rund 180 000 Einwohnern grössten Stadt Kalabriens, schlängeln wir uns durch den Verkehr zum Museo della ’ndrangheta. «Es gibt in dieser Zone wahrscheinlich keinen einzigen Geschäftsmann, der den ‹pizzo›, das sogenannte Schutzgeld, nicht bezahlt», sagt Claudio La Camera, einer der Leiter des Museums. Im steil angelegten historischen Kern reiht sich ein Geschäft ans nächste. Etwa drei Viertel der hier lebenden Bevölkerung stehen in Kalabrien mit der Mafia in Ver­bindung.

In Museen wird traditionellerweise Vergangenheit konserviert. Das Museo della ’ndrangheta versteht sich aber als Ort, in dem ein neues kollektives Gedächtnis geschaffen wird. Die Villa gehörte einst Giovanni Puntorieri. 2006 wurde er wegen Mordes an einem 15-Jährigen und Drogen­handels festgenommen. Seine Verwandten wohnen noch immer im Haus gegenüber.

Die Einführung des Gesetzes, das die Beschlagnahmung von Firmen, Häusern und Luxusbeständen vorsieht und damit den Reichtum, das wichtigste Symbol der Mafiosi angreift, trägt Früchte. Bislang wurden Güter im Wert von 650 Millionen Euro beschlagnahmt und neuen Bestimmungen zugeführt.

Das Schweigen brechen

«Der erste Schritt ist, die ’Ndrang­heta beim Namen zu nennen», sagt La ­Ca­mera, während er die Monitore der 20 Überwachungskameras kontrolliert, die im und rund ums Museum positioniert sind. «Ich will nicht mehr bei Einbruch der Dunkelheit in der Strassenmitte nach Hause laufen, weil an jeder Ecke ein Auto in die Luft gejagt werden kann.» Für Kinder soll es nicht zu den Alltagseindrücken gehören, Leichen auf der Strasse zu sehen wie während des ersten Mafiakriegs in den 1980er-­Jahren.

Ziel des Museo della ’ndrangheta, das im Dezember 2009 eröffnet wurde, sei die Entmystifizierung der Mafia, sagt Claudio La Camera. Das Museum solle zu einem internationalen Studienzentrum werden, das die vielfältigen Forschungen über die ’Ndrangheta der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Wir steigen wieder in den Mazda. Eine Woche lang führt er uns in jeden Winkel der ionischen Küste entlang, mitten in das Herz der Finsternis. Wir möchten wissen, wie Bevölkerung, Polizei und Staat gegen die Mafia antritt respektive mit ihr lebt.

Claudio La Camara hält quietschend vor der Quästur von Reggio. Staatsanwalt Giuseppe Pignatone beginnt gerade mit der Pressekonferenz, dann werden die drei Verhafteten abgeführt. Illegale Spielautomaten, versuchte Erpressung – ein Automaten­besitzer hat das Schweigen gebrochen. Die Mutter eines Straftäters schreit hysterisch neben uns «Vittorio», als ihr Sohn an ihr vorbeigeht und im Polizeiwagen verschwindet. Vittorio winkt mit den Handschellen und grinst.

2010 gelang es den Behörden, über 1000 ’Ndranghetisten festzunehmen und durch Abhörungen in der Polizeioperation «Crimine» die hierarchische Struktur der Organisation ans Licht zu bringen. Die ’Ndrangheta organisiert sich in vertikalen Familienclans. Über 155 Clans, sogenannte cosche oder ’ndrine, die sich aus 49 Mitgliedern zusammensetzen, finden sich in den Erhebungen der Polizei.

Die ­’ndrine hängen ihrerseits an den locali oder società, die bestimmte Einzugsgebiete kontrollieren: Die Ionica umfasst die aspromontische Gebirgs­zone rund um San Luca, die Tirrenica den Hafen um Gioia Tauro, und Reggio kontrolliert die kala­brische Hauptstadt Reggio Calabria. Diesen Einheiten sitzen jeweils Abgeordnete vor, oberster Chef ist der «capo dei capi», der jährlich während einer Prozession im Bergkloster in Polsi hinter einer hohlen Eiche, oberhalb von San Luca gewählt wird.

Wir tauschen den Mazda gegen einen Wagen der Carabinieri und machen uns auf den Weg nach Platì. Seit die Behörden über 15 Bunker entdeckt haben, in denen sich Mafiabosse jahrelang versteckt hielten, sind die abgeschotteten Dörfer Kalabriens ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. Maresciallo Vito fährt, neben ihm sitzt Claudio. Sie sind beide nicht aus Kalabrien. Die jungen Polizisten, knapp 30 Jahre alt, sehen ihren Aufenthalt in Kalabrien als Zwischenstation. Der Dienst in diesem gefährlichen Distrikt dauert normalerweise nicht mehr als drei Jahre, und nachher stehen die Chancen gut, an einen ruhigeren Ort versetzt zu werden, an Familie und Nachwuchs zu denken.

Zwischen Bianco und Platì gibt es auf 100 Kilometern Strecke weder ein So­zialzentrum noch eine Bibliothek. In den abgeschiedenen Dörfern an der ionischen Küste Kalabriens gross zu werden, ohne selbst Mitglied der Mafia zu sein, sei fast unmöglich, erzählen die Carabinieri. Die pittoreske Landschaft, das funkelnde Meer, die blühenden ­Olivenhaine und die Aussicht auf das nahe liegende Sizilien verschleiern den Blick auf die Realität.

Knotenpunkt des Kokainhandels

Der italienische Wochenzeitung «L’Es­presso» spricht von einem regelrechten Bürgerkrieg, der sich in Kalabrien abspielt. Fehlende Perspektiven, Jugendarbeitslosigkeit von knapp 30 Prozent und die Armut der Bevölkerung machen den Boden für das organisierte Verbrechen fruchtbar. Die 10 000 Mann starke ’Ndrangheta ­erbeutet jährlich 44 Milliarden Euro, den Hafen von Gioia Tauro passieren rund 75 Prozent des nach Europa importierten Kokains.

Der Einfluss der Mafia reicht vom Bausektor über die Landwirtschaft bis hinein in die Lokal- und Regionalpolitik. Nur 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Region werden legal erwirtschaftet, der grosse Rest des in Kalabrien ausgegebenen Geldes stammt aus illegalen Machenschaften.

Die Strassen von Platì fallen in sich zusammen, weil unter ihnen Flucht­tun­nels gegraben wurden, Strassenschilder sind von Geschossen durchlöchert, Rohbauten, architektonische Ske­lette so weit das Auge reicht. Eine Mutter zieht ihr Kind in eine Seiten­gasse, eine alte Frau verschwindet hektisch in einem schmalen Spalt zwischen den alten Gemäuern, als sie den Polizeiwagen sieht. Gardinen würden zu­gezogen, wenn es in den Steinruinen welche gäbe. Stattdessen versperren zerschlagene Scheiben, Müll und zugemauerte Türen neugierigen Blicken die Sicht. Ein Junge auf seinem Motorrad fährt argwöhnisch an uns vorbei, während wir mit der Polizeieskorte in die Mafiabunker steigen, sonst sind die Strassen menschenleer.

Platì ist das Herz der ’Ndrangheta. In ­einem Bunker, 15 Meter unter seinem Haus, versehen mit Ehebett, TV-Ap­parat und Sanitäranlagen, konnte sich Giu­seppe Barbaro, der «u sparitu» («der Verschwundene») genannt wurde, 14 Jahre lang vor der Polizei verstecken. Der Boss von Platì stand wegen Drogenhandels und Mordverdachts auf den Fahndungslisten. Die Polizisten wurden bei einer Razzia auf den Bunker aufmerksam, als sie in dem leeren Haus frisch gekochten Kaffee rochen.

Zwei Häuser weiter, hinter einer dicken unverputzten Mauer, fanden die Carabinieri das Versteck von Saverio Trimbolo: ein hinter einem Zementblock verborgener 20 Quadratmeter grosser Raum. Dem Ideenreichtumg der Mafiosi sind keine Grenzen gesetzt. Im nächsten Haus ermutigen uns die Carabinieri, hinter den Pizza­ofen zu blicken. Dieser hat keinen Kamin, dafür verbirgt sich dahinter ein ­Fluchttunnel, der durch ein weiteres Zimmer ins Freie führt.

Am nächsten Tag wartet Tiberio Bentivoglio auf uns. Zusammen mit seiner Frau leitet er in Condera an der ionischen Küste Kalabriens ein Sanitätshaus. Seit zwei Jahrzehnten werden er und seine Familie von der ’Ndrangheta drangsaliert. Es fing mit einem kleinen Diebstahl und der Entlassung eines Angestellten an – zwei Monate später wurde sein Lieferwagen gestohlen und ein Grossteil der im Geschäft gelagerten Ware kam abhanden. Der Kredit war noch nicht abbezahlt, der junge Geschäftsmann entmutigt, doch mithilfe von Freunden und Verwandten, schaffte er es, die Krise zu meistern.

Zwanzig Kinderwagen stehen aneinandergereiht im Schaufenster. Sie wackeln nicht, kein Schreien ist zu hören. Ungefähr so mussten die Kinderwagen auch im Frühling 2003 gestanden haben, als es einen lauten Knall gab und der rund 450 Quadratmeter grosse Laden in die Luft flog. Zwei Menschen wurden verletzt. Es war bereits das dritte Attentat auf das Sanitätshaus.

Bentivoglio ist der Überzeugung, dass Polizei und Staatsanwälte gute Arbeit leisten. Sie ermitteln die Delinquenten und bringen sie vor Gericht. Wie auch die Brandstifter, die seinen Laden 2005 bis auf die Grundmauern niedergebrannt hatten. Das Problem sieht er darin, dass die Polizei überfordert ist. Die Ermittlungen in seinem Fall waren aufgenommen worden, doch dann liess der Mord am bekannten Arzt und Regionalpolitiker Francesco For-tugno im Oktober 2005 die Öffentlichkeit aufhorchen. «Sicher war dieser Brand im Vergleich zu einem Mord ein Witz», meint Bentivoglio. «Aber auch hier sind Menschen betroffen, die Angst haben, die keinen Lohn mehr kriegen und keine Mieten mehr bezahlen können.»

Der Fall konnte im Februar 2010 abgeschlossen werden. Dank dem Engagement eines Kleinunternehmers seien drei Lokalbosse verurteilt worden, berichteten die Zeitungen.
Genau ein Jahr später schossen Unbekannte Benti­voglio in Schultern und Beine, als er aus seinem Lieferwagen stieg. Ein Projektil blieb in der Bauch­tasche stecken, die er sich über den Rücken geschnallt hatte. «Sie wollten mich nicht umbringen», glaubt Bentivoglio, «sie wollten ein Warnzeichen setzen.» Der tapfere Mittfünfziger atmet schwer, während er erzählt. Er träumt noch heute fast jede Nacht vom Überfall. Warum bleiben? Warum nicht die Familie in Sicherheit bringen? Solche Fragen stellt er sich immer wieder. Doch wohin gehen? Ein Dorf weiter, eine Region weiter, ins Ausland?

Bentivoglio lebt seit seiner Kindheit in Condera. Kalabrien sei viel zu schön, um die Region den Mafiosi zu über­lassen, sagt er. Seit Monaten folgt ihm eine Leibwache auf Schritt und Tritt, die auch an diesem Tag in einem dunklen Auto vor dem Laden wartet. Alle sechs Monate kann sie verlängert werden, wenn es die Justiz für notwendig erachtet.

Nach dem ersten Attentat sei die Solidarität der Nachbarn gross gewesen. Erst nachdem er sich der Bürgerinitia­tive Libera angeschlossen und zu reden begonnen hatte, habe sich die Stimmung im Dorf schlagartig geändert. «Die Leute in meiner Nachbarschaft glauben, ich sei übergelaufen und ein Polizeispitzel.» Wenn er heute an Bekannten vorbeifährt, fällt ihm auf, wie vielen ganz plötzlich der Schlüsselbund zu Boden fällt oder sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche ziehen, um ihn nicht grüssen zu müssen. Von der Polizei erhielt er 2005 eine einmalige Auszahlung – als Kompensation für alle auf ihn und sein Geschäft verübten Attentate.

«Ich würde heute wieder so handeln», sagt Bentivoglio, umarmt seine Frau und schaut in Richtung Schaufenster, wo die Kinderwagen in Reih und Glied nebeneinander stehen. Sie symbolisieren die Hoffnung an die zukünftige Generation, die Stimme des Einzelnen, der sich zu erkennen gibt.

Kulturrevolution gegen die Mafia

Die Bevölkerung lebe mit dem Gefühl, dass der Staat nicht genügend unternehme, um das furchtvolle Schweigen über die Mafia zu brechen, sagt der bekannte Antimafia-Staatsanwalt Nicola Gratteri. «Um der Mafia langfristig beizukommen, bedarf es einer grundlegenden Änderung des Strafgesetzbuches.»

Dieser Meinung sind auch Claudio La Camera und seine Kollegen vom Museo della ’ndrangheta. Doch es brauche mehr, sagt La Camera, «eine kulturelle Revolu­tion.» Die Zivilgesellschaft ­müs­­se sich vernetzen, mit dem Finger auf die Mafia zeigen. «Nur wenn die Leute beginnen, an die Stärke der Gemeinschaft zu glauben, wenn Nummernschilder aufgeschrieben werden und Namen ein Gesicht bekommen, dann wird die Mafia keine Zukunft mehr haben.»
Es ist unser letzter Abend in Kala­brien. Wir stehen auf dem Balkon des Museums, aus einem nahe gelegenen Gebäude sind die Hip-Hop-Klänge der Band Kalafros zu hören: «Resistenza sonora».

 

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12

Nächster Artikel