Präsident Mursis Wirtschaftspolitik folgt den Interessen einer etablierten Elite und verdient das Prädikat neoliberal. Die nächsten «Brotaufstände» sind programmiert.
Die Muslimbruderschaft und ihre Unterstützer haben versucht, die derzeitige Krise in religiöse Begrifflichkeiten zu rahmen und die Opposition gegen ihren hektischen Verfassungsentwurf als Laune einer anti-islamischen, liberalen Elite darzustellen. Auch viele Medien haben diese Deutung übernommen. Demnach steht Präsident Mursi eine «säkulare» Opposition gegenüber, die sich an einigen Details seiner Verfassung stösst, die so schlecht gar nicht ist. Solch verschrobene Analysen haben den ägyptischen Experten Dr. HA Hellyer von der Brookings Institution veranlasst, die westlichen Medien höflich zu bitten, «Ruhe zu geben.»
Was hat das Ergebnis des Verfassungsreferendums stattdessen offenbart? Es musste zwei Durchgänge geben, weil sich so wenige ägyptische Richter bereit erklärt hatten, das Votum zu überwachen. Trotz ihrer legendären Mobilisierungsfähigkeit gelang es den Muslimbrüdern nicht, im ersten Durchgang mehr als 57 Prozent der Stimmen für ihren Verfassungsentwurf zu gewinnen. In Runde zwei waren es 63,8. Vor nicht allzu langer Zeit waren der Bruderschaft Zustimmungsraten von über 70 Prozent gewiss.
Wenn nun der Ausgang des Referendums nahelegt, die Ägypter hätten den Glauben an die Muslimbrüder verloren, liegt das nicht am Islamismus der Organisation, sondern daran, dass sie als Regierung bislang nicht viel getaugt hat. Viele sind der Ansicht, die Bruderschaft habe ihre Versprechen an die Elite gehalten, nicht aber die gegenüber der Bevölkerung. Präsident Mursi hat die neoliberale Politik, die unter Mubarak für so viel Elend sorgte und schliesslich zu einem der Hauptbeweggründe des Aufstands wurde, verschärft fortgeführt.
Insofern trägt Mursis bisherige Politik den Stempel des Neoliberalismus. Auch die Verfassung ist davon geprägt. Anfang Dezember kündigte der Präsident an, die Treibstoff-Subventionen abzuschaffen. Die Rechnungen der ägyptischen Haushalte für Gaszylinder und Strom dürften dadurch in die Höhe schiessen.
Konservative Fahrtrichtung
Derweil wird gerade mit dem IWF über einen Kredit in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar verhandelt. Der ist an Bedingungen geknüpft, von denen es heisst, sie würden sich zur grössten Sparwelle seit 1977 auswachsen. Seinerzeit wurden die Subventionen für Grundnahrungsmittel mit einem einzigen, verheerenden Schlag gestrichen, was schliesslich zu «Brotaufständen» führte. Dieser Tage sollten die öffentlichen Ausgaben gekürzt, die Subventionen gestrichen und die Steuern auf grundlegende Güter erhöht werden. Wegen der zu erwartenden Unruhen ist dieses Paket nun erst einmal gestundet worden. Dennoch bleibt die Frage, warum die Ägypter einen solchen Schock-Deal schlucken sollten, wenn doch eine der Hauptforderungen der Revolution die nach sozialer Gerechtigkeit war?
Die Verfassung offenbart die konservative ökonomische Fahrtrichtung der Muslimbrüder auch noch in anderer Hinsicht. Sie enthält eine Klausel, die Löhne an die Produktivität koppelt. Weiter ist in der Verfassung festgehalten, dass nur «friedliche» Streiks – was auch immer das heissen mag – erlaubt sind. Die Interessen des Militärs bleiben unangetastet und werden jeder öffentlichen Überprüfung entzogen. Dies gilt wohlgemerkt für ein Land, in dem sich die Armee im Besitz von 10 bis 45 Prozent der nationalen Wirtschaft weiss. Auch dies spricht dafür, dass Mursi nicht, wie er selbst behauptet, versucht, «die Revolution zu schützen». Vielmehr scheint er auf Kosten aller anderen die Interessen einer etablierten Elite wahren zu wollen. In einem Bloomberg-Bericht wurden die wohlhabenden Ränge, die in dieser islamistischen Gruppierung das Sagen haben, denn auch bereits als «Brüder des einen Prozents» bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht sonderlich überraschend, dass die Stadt Mahalla, in der viele Fabriken ansässig sind, sich aus Protest gegen die Anti-Gewerkschaftsgesetze selbst zum unabhängigem Staat erklärt hat. Seit Mursi an der Macht ist, kam es zu einer Streikwelle, bei der nicht nur Fabrikarbeiter die Arbeit niederlegten, sondern auch Beschäftigte des Gesundheitswesens. Ausserdem kam es zu Protesten wegen der erodierenden Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen.
Die rasant wachsenden unabhängigen Gewerkschaften im Land haben ebenfalls gegen die Verfassung mobil gemacht, weil die soziale Gerechtigkeit darin mit Füssen getreten werde. Das gilt besonders für Frauen und Minderheiten, bei deren Rechten dem Klerus das letzte Wort eingeräumt wird. All dies geschieht innerhalb eines Prozesses, der Pluralität ebenso schmäht wie die Notwendigkeit der Konsensbildung.
Vielmehr als irgendeine reflexhafte Feindseligkeit gegenüber Islamisten in Machtpositionen ist es dies, was in ganz Ägypten für weitreichende Proteste gesorgt hat.
Die USA sind zufrieden
Doch während Mursis Wirtschaftspolitik ihn auf den Strassen seines Landes unbeliebt macht, lässt sie ihn für den Westen annehmbar werden: Eine den Interessen der Macht dienende Wirtschaft, gepaart mit einer Aussenpolitik, die regional – vor allem im Verhältnis mit Israel – nicht für Unruhe sorgt. Die USA betrachten dies durch die üblichen paternalistischen Filter und setzen darauf, dass die religiöse Glaubwürdigkeit der Bruderschaft eine reaktionäre Politik und damit den Erhalt des Status Quo garantiert. Solange dies gewährleistet ist, ist es der amerikanischen Regierung eigentlich egal, ob der Präsident in Ägypten Mubarak heisst, oder Mursi.
Die Muslimbrüder konnten bei dem Referendum zwar letztlich eine Mehrheit hinter sich bringen – das mag aber auch daran liegen, dass die Öffentlichkeit ein Ende der Verfassungskrise herbei sehnt. Dass sie jedoch so an Unterstützung eingebüsst haben, zeigt, dass die Ägypter sich nicht mehr hinhalten lassen. Darin liegt die Macht der Revolution. In Umfragen, die nach den Aufständen durchgeführt wurden, kam zutage, dass die Sorgen der Ägypter sich um Arbeitsplätze, die Wohnungssituation, Gesundheit, Sicherheit und die öffentlichen Dienstleistungen drehen und nicht um gebärdenhafte Identitätspolitik à la Muslimbrüder versus Liberale.
(Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hofman, «Freitag»)