Drei Experten, eine Meinung: Die Schweiz wird trotz hochtrabender Ambitionen auf den Europameistertitel verzichten müssen. Marco Streller, Peter Knäbel und Ueli Kägi erörtern auf einem unterhaltsamen Podium, warum die Zeit noch nicht reif ist.
Wie wurden die Chancen der Schweizer Nationalmannschaft vor Beginn der EM-Qualifikationskampagne vor anderthalb Jahren taxiert? Das Kader: Weltklasse. Die Qualifikationsgruppe: Ein Spaziergang verglichen mit früheren Challenges auf dem Weg an grosse Turniere.
Doch es kam anders, mehr schlecht als recht würgte sich das Team von Vladimir Petkovic durch die Qualifikation. Trotzdem liess sich Breel Embolo noch vor vier Wochen wie folgt zitieren:
Die helvetische Fangemeinde reagierte konsterniert:
Ist natürlich fies. Da stellt ein Journalist dem Hoffnungsträger der Nation kurz vor Beginn der Europameisterschaft DIE ketzerische Frage, und was hätte er denn sagen sollen? Nein, wir werden nicht Europameister? Geht natürlich nicht.
Ein Lamento in sechs Punkten
Drei, die das einfach so sagen können, sassen am Donnerstag anlässlich des 10. Sport-Forums des Panathlon Club beider Basel in der gediegenen Kundenhalle der UBS in der Aeschenvorstadt und waren sich einig: Nein, die Schweiz wird nicht Europameister. Der frühere Nationalspieler Marco Streller, Ex-HSV-Sportchef Peter Knäbel und Ueli Kägi, Leiter Sportressort des «Tagesanzeiger» und der «Sonntagszeitung» wagten eine nicht immer bierernst gemeinte Bestandsaufnahme aus Expertensicht. Ein Lamento in sechs Punkten:
Die Schweiz wird nicht Europameister …
1. weil das Stimmungsbarometer den Nullpunkt erreicht hat
Selten stand die Schweizer Nationalmannschaft vor dem Beginn einer grossen Endrunde bei den Fans emotional so tief in der Kreide, wie das vor dieser EM der Fall ist. Es gibt eine «grosse Unzufriedenheit» beim Publikum, sagt Ueli Kägi, die sich auch auf die Spieler auswirken könnte. Denn «die Spieler kriegen die Unzufriedenheit natürlich mit», sagt Marco Streller. «In Zeiten von Social Media kann man sich dem gar nicht entziehen.» Auch er attestiert der Nationalmannschaft sehr wenig Kredit.
Hoffnungsschimmer: «Vielleicht ist die Situation auch gar nicht so schlecht», sagt Marco Streller, «immerhin ist damit der Druck nicht so hoch, das kann auch befreiend wirken.»
2. weil das Team in der Vorbereitung einen erschreckenden Eindruck hinterlassen hat
Die Experten sind sich einig: Wer sich kurz vor der Endrunde so hängen lässt wie die rot-weisse Truppe in den beiden letzten Testspielen, der hat ein Motivationsproblem. «Gerade Wackelkandidaten müssten sich in diesen Spielen ein Bein ausreissen», wundert sich Knäbel, «aber dem war nicht so.» Der schüchterne Einwand des Moderators Benjamin Schmid, dass die Schweiz möglicherweise weniger Nati-Kandidaten habe als andere Nationen und darum der Konkurrenzkampf dürftiger ausfalle, will Streller nicht gelten lassen: «Ich war immer unglaublich stolz für mein Land zu spielen, da hat es mich nicht interessiert, ob das ein Ernstkampf ist oder ein Freundschaftsspiel. Diesen Stolz der Spieler habe ich in diesen letzten Spielen vermisst.»
Hoffnungsschimmer: Ein Turnier schweisst ein Team immer zusammen. «Dieses Innenleben der Truppe, das kann sich entwickeln», sagt Peter Knäbel, «das erste Spiel gegen Albanien wird da entscheidend sein.»
3. weil der Familienname vieler Spieler auf -ic endet
Das ist natürlich Schwachsinn, resümiert aber eine müssige Diskussion, die den Spirit der Nationalmannschaft beeinträchtigt. Zumindest in der Aussenwahrnehmung. Die Rede ist natürlich von Captain Stephan Lichtsteiner, der mit seiner Rede von den «richtigen» und den «anderen Schweizern» eine Debatte über Identifikation und Nationalität lostrat. Schon vor dieser Aussage habe es in der Truppe gebrodelt, sagt Kägi, aber Lichtsteiners Aussagen haben den Konflikt an die Öffentlichkeit gezerrt, wo er auf Stammtisch-Niveau verhandelt wurde und noch immer wird. «Wenn einer gehen will, dann soll er gehen», hiess es im Anschluss an die Podiumsdiskussion aus den Zuschauerreihen. Richtig, aber ohne Shaqiri & Co. wird die Schweiz erst recht nicht Europameister. So sieht’s nun mal aus.
Hoffnungsschimmer: Die Spieler sind Profis und Profis wollen gewinnen. Mit dem Anpfiff fokussieren sich alle Gedanken auf den Sieg, für pathosschwangere innere Zugehörigkeitskonflikte bleibt schlicht keine Zeit. Das haben etwa die Xhaka-Brüder mehrfach so formuliert, und man darf das auch glauben.
4. weil der Nationaltrainer keine Zuversicht ausstrahlt
Kein Trainer der Welt tut sich leicht, in die Fussstapfen eines Ottmar Hitzfeld zu treten. Petkovic gelang das erstmal ganz passabel. Dem Versprechen, einen offensiven, mutigen Fussball spielen zu lassen, folgte aber bald der Knick. Petkovic begann zu zaudern. «Er ist nicht einer, der Optimismus versprüht», sagt Ueli Kägi, «immer ist er in der Defensive.» Deutlichstes Signal einer Zweck-Ehe zwischen Verband und Trainer seien die Reaktionen auf den kürzlich verlängerten Vertrag gewesen. «Die Vertragsverlängerung mit dem wichtigsten technischen Mitarbeiter ist normalerweise ein Grund zur Freude» sagt Knäbel, «aber davon war in diesem Fall gar nichts zu spüren.» Die Nachricht sei medial resonanzlos verpufft.
Hoffnungsschimmer. Dass Petkovic ein guter Trainer ist, spricht ihm niemand ab. Mit einem guten Resultat gegen Albanien, kommt das Selbstvertrauen zurück.
5. weil die Super League zu lange dauert
Ein, nennen wir es: «technischer Defekt». Der Schweizer Meisterschaftsbetrieb dauert so lange in den Sommer hinein wie kaum eine andere europäische Liga. Das kostet Vorbereitungszeit und Kraft. Kraft, die auf den letzten Metern ins Finale natürlich fehlen wird. Zwischen dem letzten Schweizer Pflichttermin (Cupfinal) und dem ersten EM-Spiel der Schweizer Nationalmannschaft (am 11. Juni in Lens gegen Albanien) liegen somit nur zwölf Tage.
Hoffnungsschimmer: Keiner. Die Swiss Foottball League (SFL) hielt an ihrem Spielplan fest, und der Schweizerische Fussballverband (SFV) fand für seinen Cupfinal kein anderes Datum als den 29. Mai. «Da kann man nichts machen», sagt Ex-SFV-Direktor Knäbel, dem es an Kooperationswillen zwischen den beiden Organisationen fehlt.
6. weil die Schweiz die Schweiz ist
Unser Fazit der Podiumsdiskussion: Klar, mit der steigenden Anzahl Endrundenteilnahmen steigen auch die Ambitionen. Und Griechenland hat es ja auch irgendwie geschafft vor zwölf Jahren. Trotzdem ist ein Szenario wie das Folgende wahrscheinlicher: Dem hart umkämpften Unentschieden gegen Albanien folgt die bittere und vollkommen unnötige Niederlage gegen Rumänien, mit der keiner gerechnet hat. Waren die Spieler mit den Köpfen noch beim emotional aufwühlenden Spiel gegen Albanien? Grosse Identitätsdebatte. Gegen das bereits für die Achtelfinals qualifizierte Frankreich folgt dann der versöhnliche Abschluss: die Schweiz gewinnt mit 2:1 dank Toren von Seferovic und Shaqiri. Ende der Vorrunde gut, alles gut.
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Gut besucht: Das 10. Sport-Forum des Panathlon Club beider Basel am 19. Mai 2016 in der UBS Kundenhalle in der Aeschenvorstadt. (Bild: Uwe Zinke)
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Wenn’s die Schweiz nicht wird, wer dann? Fragen Sie das interaktive Orakel der NZZ. Es verrät Ihnen auch, wie weit die Schweiz (vielleicht) wirklich kommt.