Ein Quartier wartet auf seine Belebung

Leere Läden, leere Plätze – das Vorzeigeprojekt ProVolta ist auch drei Jahre nach seiner Vollendung ­eine unbelebte Zone. Für die Planer kein Grund zur Selbstkritik.

(Bild: Jonas Schaffter)

Leere Läden, leere Plätze – das Vorzeigeprojekt ProVolta ist auch drei Jahre nach seiner Vollendung ­eine unbelebte Zone. Für die Planer kein Grund zur Selbstkritik.

Kopfschüttelnd sitzt Kantonsbaumeister Fritz Schumacher in einem­ Besprechungszimmer des Basler Baudepartements gegenüber vom Basler Münster. «Ich denke, es ist nicht der Zeitpunkt, um die Situation schlechtzureden und zu sagen, es hat nicht funktioniert. Auch wir haben uns gewünscht, dass der Prozess etwas schneller in Gang kommt, dass das soziale Feld etwas schneller zum Leben erwacht und die Attraktivität des Raumes genutzt werden kann. Da liegt das Potenzial heute noch brach.» Der Städtebau sei eine Marathon­disziplin und nur schwierig planbar. Unterschiedliche Faktoren entschieden darüber, wie rasch sich ein Quartier entwickle. Drei Faktoren seien zentral: die Anbindung an den öffentlichen Verkehr, der Mietermix und die Strategie der Investoren.

Nach dem Bauabschluss der Nordtangente-Autobahn wuchs im äusseren St. Johann in Rekordzeit ein neues Stück Stadt. Unter Federführung des Kantons entstanden innert drei Jahren rund 300 Wohnungen im oberen Preissegment und knapp 40 Verkaufs- und Gewerbeflächen. Das Stadtentwicklungsprojekt trägt den Namen ProVoltaVoltaZentrum, VoltaWest, VoltaMitte heissen die drei markantesten Neuerungen, seit ihrer Fertigstellung 2010 bestimmen die drei wuchtigen Gebäude das neue Stadtbild zwischen dem Bahnhof St. Johann und dem Voltaplatz. Nach Abschluss der Bauarbeiten sprach Kantonsbaumeister Schumacher von einem Vorzeigestück, er erhoffte sich einen lebendigen städtischen Ort. Die ehemals verkehrsüberlastete Voltastrasse sollte sich in einen lebendigen Boulevard verwandeln, der neu gestaltete Vogesenplatz zu einer einladenden Verkehrsdrehscheibe mit Sitzbänken, Brunnen und Begrünung werden.

Lebendiger städtischer Ort?

Heute, drei Jahre nach Bauabschluss, hinkt die Realität den Visionen von damals in manchem Punkt hinterher. Das Quartier entwickelt sich nur zögerlich. Während fast alle Wohnungen vermietet sind, steht ein Grossteil der Parterre-Ladenflächen immer noch leer, hinter den Fensterfronten hängen noch lose Kabel von den Decken, an den Wänden stapeln sich übriggebliebene Isolierplatten. Im Voltazentrum warten 1000 Quadratmeter Verkaufs- und Dienstleistungsfläche auf einen Mieter. Die Grundversorgung ist sichergestellt: Coop, Apotheke, eine Bank und eine Postfiliale. Innovative Nutzungen und Kleingewerbe finden sich jedoch kaum. Eine Café-Betreiberin auf dem Vogesenplatz musste mangels Kundschaft vor einigen Wochen schliessen, nebenan verkauft eine Kleider-Boutique Mass­anzüge. Geöffnet hat das Geschäft nur freitags und samstags, die anderen Tage rentierten nicht, erklärt der Storemanager. «Von den Mietern in den neuen Gebäuden sieht man wenig.»­ Er habe den Eindruck, diese bewegten sich hauptsächlich zwischen Wohnung und Tiefgarage.

Hinter den Fenstern hängen lose Kabel von der Decke.

Noch markanter ist der Leerstand im Gebäude Voltamitte: Innert drei Jahren sind eine Kindertagesstätte und eine Apotheke eingezogen, seit ­einigen Wochen bereitet ein Moneytransfer seine Eröffnung vor. Sechs weitere Flächen, insgesamt 1300 Quadratmeter, stehen leer. Die Belebung des neuen Quartiers kommt von ­ausserhalb. Skater und Parkour-­Akrobaten nutzen regelmässig die Beton-Elemente auf dem Vogesenplatz. Samstags stellen zwei, drei Marktverkäufer ihre Gemüsestände auf. Wenn das Wetter stimmt, entsteht am Rand des Platzes zudem ein improvisierter Flohmarkt. Familien mit Migrationshintergrund verkaufen auf ausgebreiteten Decken Gebrauchsgegenstände und Skurrilitäten. Von den Mietern aus den Neubauten, berichten auch diese Verkäufer, zeige sich kaum jemand.

Gabi Hangartner verfolgt die Ver­änderungen im St. Johann seit vielen Jahren. Die Baslerin doziert an der Hochschule Luzern Soziale Arbeit am Institut für Soziokulturelle Entwicklung und veröffentlichte vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel «Urbanes Trendquartier oder gespaltener Sozialraum?», in dem sie das St.-Johann-Quartier unter die Lupe nahm. Vollbesetzte Wohnungen, leere Gewerbeflächen, ein kaum genutzter öffentlicher Raum, wie passt das zusammen? «Das ist der berühmte Graben, wie er sich in vielen aufgewerteten Quartieren zeigt. Die Mieterkonstellation spielt da eine Rolle. Es stellt sich die Frage, ob die neu zugezogenen Leute überhaupt Lust und Zeit haben, sich auf das Quartier einzulassen und etwas mitzugestalten.»

In den drei Volta-Gebäuden wohnen viele Arbeiter der benachbarten Pharma-Industrie. Das Gebäude Voltazentrum wirbt explizit mit seiner Nähe zum Novartis-Campus («Near the Campus») um neue Mieter, auf vielen Klingelschildern stehen asiatische und englische Namen. Familien wohnen in den drei Neubauten wenige, die überwiegende Mehrheit der Mieter sind Arbeiter, gut ausgebildet mit überdurchschnittlichem Einkommen. Das Quartierbild wie der Mietermix habe sich mit dem Bau der Nordtangente stark verändert, erklärt Hangartner. «Viele Hinterhofnutzungen sind verschwunden, auch Künstler­ateliers. Früher wurde das Quartier durch das Kleingewerbe belebt.»

Warten auf die S-Bahn

Wieder im Baudepartement bei Kantonsbaumeister Fritz Schumacher und dem Projektverantwortlichen Thomas Waltert. Einen Grossteil ihrer Hoffnungen setzen die beiden Stadtplaner auf den öffentlichen Verkehr. «Die S-Bahn muss sich weiterentwickeln. Der Bahnhof St. Johann ist noch weit von dem entfernt, was er eigentlich leisten könnte», so Schumacher. Zu den Stosszeiten verkehrt gerade mal stündlich eine S-Bahn zwischen dem Bahnhof SBB und dem St. Johann. Grundvoraussetzung für einen dichteren Bahnverkehr ist ein Ausbau der Schieneninfrastruktur. Bis dahin könnte es aber noch bis zu 20 Jahre dauern.

Hoffnungen setzt Waltert auch auf die Menschen vor Ort: «Ideen und Enga­gement, um das Quartier zu beleben, müssen mitunter von den Be­wohnern und Gewerbetreibenden im Quartier kommen.» Und was für eine Quartiernutzung wünscht man sich? «Eine normale», sagt Schu­macher, um nach kurzer Pause anzufügen: «Im Vordergrund steht die Versorgungsqualität, vom Kiosk über die Apo­theke und allem, was man im Wohnumfeld braucht und will. Also nichts Hoch­gestochenes. Wir erwarten keine neue Designermeile, das war nie die Per­spektive.»

Mario Ress, Präsident des Neutralen Quartiervereins St. Johann, ärgert sich gerne über den neuen Quartierteil. «Oh je. Sie meinen dieses Gebäude, das aussieht wie ein Bunker?» Es erstaunt ihn nicht, dass die Mieter auf sich warten lassen. «Wenn die Ladenflächen in der Freien Strasse günstiger sind als hier, dann stimmt doch etwas nicht.» Die Gebäude seien funktionell, das sei aber alles. Um die Belebung des neuen Stadtteils voranzutreiben, fehlten seinem Verein die Kapazitäten. «Wir konnten mit Müh und Not im St.-Johann-Park ein Café initiieren. Wir haben nicht genügend Kräfte, uns auch um den Vogesenplatz zu kümmern.»

Den Projekten der Stadtentwicklung in seinem Quartier steht er grundsätzlich kritisch gegenüber. Das einzige vernünftige Projekt im Umfeld des Vogesenplatzes sei der Verein Stellwerk. Im ehemaligen Bahnhofsgebäude können junge Kreative und Start-ups zu günstigen Preisen Ateliers mieten, unter demselben Dach befinden sich ein Restaurant und ein Dampfbad. In kurzer Zeit hat sich dort ein enges Netzwerk gebildet, das weit über das Quartier hinaus strahlt.

Investoren haben das Sagen

Auch Schumacher lobt die Entwicklung des Stellwerks. Starter­gewerbe und attraktive Zwischennutzungen sieht er ohnehin als Schlüssel zum Erfolg des Quartiers. Doch bei der Frage, wie die drei Volta-Gebäude genutzt werden sollen, habe der Kanton wenig mitzureden. Nachdem das Projektierungsverfahren und die Bauarbeiten abgeschlossen sind, haben jetzt die Investoren das Sagen.

«Ich finde es bedauerlich, dass der Eigentümer wartet, bis jemand die Miete zahlt, die er in den Inseraten ausgeschrieben hat», klagt der Kantonsbaumeister. «Die Chance, die Entwicklungen mit Startergewerbe voranzubringen, beispielsweise mit einem Showroom von jungen Designern, wird zurzeit einfach nicht genutzt.» Immerhin drei Zwischennutzungen gibt es bereits. Auf einer leeren Ladenfläche findet ein Lagerverkauf statt, auf einer weiteren Ladenfläche stehen auf dem staubigen Boden Ölgemälde zum Verkauf. Und auch die Kindertagesstätte dient als Übergangslösung.

Der Bau Voltamitte, wo der Leerstand am markantesten ist, gehört dem ­Lebensversicherer Swiss Life. Der Projektverantwortliche steht für ein Gespräch nicht zur Verfügung, statt­dessen gibt ein Medienverantwortlicher knapp Auskunft und spricht von einer «Strategieanpassung».

Bei der Nutzung der Gebäude hat der Kanton wenig mitzureden.

Zur Kritik des Kantons will das Unternehmen keine Stellung nehmen. Swiss Life mache keine Einschränkungen bei der Auswahl ihrer Mieter, Büro- und Praxisnutzungen seien ebenso möglich wie die Vermietung als Laden­fläche. Einen Zeitraum, bis wann die Flächen besetzt werden können, will der Medienverantwortliche nicht nennen. Nur so viel lässt er sich entlocken: Die Entwicklung gehe langsamer als erhofft.

In grossen Massstäben denken

Der Projektverantwortliche Thomas Waltert lässt sich von der harzigen Entwicklung des neuen Stadtteils nicht beeindrucken. Die drei Volta-Gebäude seien die ersten Bausteine einer grösseren Entwicklung. Waltert denkt gerne in grossen Massstäben. Von den Gemüsehändlern auf dem Vogesenplatz weiss er ebenso wenig wie von den Flohmarktverkäufern. Er hat das Grossprojekt Basel Nord im Auge, das Industrie­areal im Norden des Bahnhofs St. Johann gilt als ­potenzielles Entwicklungs­gebiet. «Im Norden der Stadt liegen heute unsere Entwicklungsflächen. Das ist eine Riesenchance. In einigen Jahrzehnten werden wir von einer neuen Stadt sprechen können und nicht nur von drei Häusern an der Voltastrasse. Das ist die Perspektive, wo wir hingehen.»

Also taugt dieser erste Baustein als Vorzeigeprojekt, Herr Schumacher? Nochmals kommt das Gespräch auf die Investoren. «In Zukunft macht es Sinn, darüber nachzudenken, Bodenpolitik von Beginn an mit Planungspolitik zu verknüpfen.» So, dass die Stadt Grundeigentümerin bleibe und stärker mitentscheiden könne, wohin die Reise geht. «In der jetzigen Situation», sagt Schumacher, «fehlt uns ein starker Hebel.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

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