Ein Stück Dritte Welt mitten in Europa

Hunderte von Flüchtlingen aus Afrika warten in Calais auf den grossen Sprung nach England – wo sie ebenfalls unwillkommen sind.

Täglich strömen neue Migranten in die notdürftigen Zeltcamps von Calais. Ihr Ziel ist London. (Bild: ETIENNE LAURENT)

Hunderte von Flüchtlingen aus Afrika warten in Calais auf den grossen Sprung nach England – wo sie ebenfalls unwillkommen sind.

Reglos sitzt der Mann vor dem fünf Meter hohen Zaun, den Blick durch die Eisenmaschen auf das Meer gerichtet. Vielleicht träumt er von seinem Eldorado, dem nur 33 Kilometer entfernten England, wo er Aufnahme und Arbeit zu finden hofft.

Vielleicht plant er auch den nächsten Einsatz und überlegt sich jeden Handgriff, nachts, beim Sprung über den Stacheldraht und dann auf einen der Sattelschlepper, die langsam durch das riesige Hafengelände von Calais kurven, um sich auf die Fähre nach Dover einzuschiffen.

Niemand hier an der Carnot-Schleuse interessiert sich für den Migranten auf der Parkbank. Wie er warten derzeit mehr als tausend in Calais auf den grossen Sprung. Und jeden Tag werden es mehr.

Vergangene Woche demonstrierten vor dem Rathaus 300 Rechtsextreme des Vereins «Sauvons Calais» («Retten wir Calais»), dessen Anführer ein Hakenkreuz auf seiner Brust tätowiert hat. «Sie verdrecken die Stadt», hiess es auf einem Transparent, auf einem anderen: «Werfen wir sie raus!»

Migranten gehören in Calais seit Monaten zum Strassenbild.

Migranten gehören in Calais seit Monaten zum Strassenbild. (Bild: Gareth Fuller)

Mehr Einwohner berührt indes das harte Los der Flüchtlinge; einzelne Familien haben einen Somalier, Iraker oder Afghanen bei sich aufgenommen. Die schweigende Mehrheit von Calais schaut gar nicht mehr auf, wenn ihnen die dunkelhäutigen Männer auf dem Trottoir entgegenkommen – sie gehören längst zum Stadtbild. «Sie wirken erschöpft, werden aber nie aggressiv», meint der Wirt im Bistro La Nex, wo einzelne Flüchtlinge ihre Handybatterien aufladen kommen.

Bei Lidl, dem billigsten Supermarkt im Ort, decken sie sich mit Hühnerfleisch, Biskuits und Tee ein. Auch Omar und Asim, zwei Eriträer, schultern dicke Einkaufstaschen. Auf dem Rückweg erzählen sie, wie sie durch den Sudan und die Sahara flüchteten. Ein Schlepper brachte sie an den gefürchteten libyschen Milizen vorbei ans Mittelmeer; dort setzten sie im Gummiboot nach Italien über und gelangten ohne Polizeikontrolle nach Nordfrankreich.

Ein Leben voller Entbehrungen

Ihr Ziel ist London. England gewähre Flüchtlingen Asyl, bilde sie aus und gebe ihnen Arbeit, meint der flauschbärtige Asim, der sein Alter mit 17 angibt, um als minderjährig durchzugehen. «England is very nice for us», radebrecht er voller Überzeugung.

Die beiden Ostafrikaner schlagen einen Weg über ein stillgelegtes Eisenbahngleis ein. Bei einem halb versumpften Stadtkanal seifen sich ein paar Männer unter einem Abflussrohr ein. «Manchmal kommt Wasser», erklärt Omar, «manchmal aber auch giftige Chemie aus der Farbenfabrik dort drüben.»

Aber die Migranten, die hier in den Sanddünen leben, halten es ohne Waschmöglichkeit nicht aus. «Ohne Wasser kriegst du die Krätze, die Hautkrankheit. Und wenn sie einer hat, springt sie auf alle anderen über», erklärt der 43-Jährige, der seine drei Kinder in Eritrea zurückgelassen hat, aber nur wegen ihnen nach England will: «Ich bin zu alt, um mich um meine Zukunft zu sorgen, aber ich will, dass meine Kinder nach Europa kommen und ein würdiges Leben führen können.»

Auf dem Weg über die verrosteten Schienen kommen uns zahlreiche Männer entgegen. «Sie gehen an eine Demonstration gegen die Leute, die uns nicht wollen», meint Asim. Gegen die extreme Rechte also.

Die beiden Eriträer gehen allerdings nicht hin. Sie seien es nicht gewöhnt, politische Parolen zu skandieren, meint Omar. In ihrer Hauptstadt Asmara lande man schnell im Gefängnis, wenn man etwas Falsches sage. «Nein», korrigiert Asim sarkastisch, «schon wenn man was Falsches denkt.»

«Willkommen im Dschungel»

Am Stadtrand schlüpfen Omar und Asim hinter ihren Lidl-Säcken durch ein Loch im Maschendraht: «Willkommen im Dschungel – so heisst unser Lager.» Es geht durch dichtes Gebüsch, auf dem Kleider zum Trocknen ausgebreitet sind. «Hier erhalten wir meist Wasser», sagt Omar, auf eine Getränkefirma auf der anderen Strassenseite zeigend. In einer improvisierten Küche reinigt eine junge Frau einen Esstopf.

Das wilde Lager ist eigentlich ein Fussballfeld. An den Seitenlinien reihen sich blaue Zelte von «Médecins du Monde». Humanitäre Helfer sind aber nicht zu sehen. Und zwischen den Toren spielt niemand Fussball. Eine fühlbare Spannung liegt in der Luft. Die Polizei kann den Platz jederzeit räumen, wie im vergangenen Mai. Ausserdem kam es hier unlängst zu einem Streit, bei dem etliche Flüchtlinge mit Messerstichen verletzt wurden.

Warum? «Die Sudanesen kontrollierten die besten Standplätze, wo man auf die Laster aufspringen kann», erklärt Asim. Am Nordende des Fussballfeldes klettert der junge Eriträer die Böschung hoch.

Bewachsene Sanddünen erstrecken sich bis zum Meer, unterbrochen von der Nationalstrasse N216, der Zufahrt zum Fährhafen. Bei den Verkehrskreiseln müssen die Laster bremsen. «Dort warten wir nächstens hinter den Büschen, um aufzuspringen.»

Migranten versuchen ihr Glück als blinde Passagiere in Lastwagen:

Asim hat es zweimal versucht. Erfolglos, leicht verletzt. Der schlaksige Bursche wirkt nicht wie ein Stuntman. Er sagt es nicht, aber aus ihm sprechen Zweifel. Die Chauffeure wappnen sich immer besser, denn sie zahlen eine saftige Busse von mehr als tausend Pfund, wenn sie in Dover mit Migranten an Bord erwischt werden. Sie installieren Kameras hinter ihrem Gefährt, sie bewaffnen sich mit Schlagstöcken.

Früher schafften es jede Nacht etwa zwanzig Flüchtlinge ins gelobte England. Das entspricht etwa der Zahl der täglichen Ankünfte in Calais. Jetzt gelingt die Kanalüberquerung aber nach Polizeischätzungen nur noch einer Handvoll Migranten pro Tag; durch den hochgesicherten Eisenbahntunnel unter dem Meer versuchen sie es gar nicht mehr erst.

So stauen sie sich in den wilden Lagern rund um die Stadt. Calais, der wenig einladende Grenzort, wo Reisende kaum je halt machen, ist für sie zur Sackgasse geworden.

Vor einer Woche entlud sich die Spannung auf eine neue Art. Mehrere Hundert Migranten drangen erstmals en masse in die bewehrte Hafenzone ein. Sie überrannten die Sperren und liefen direkt auf die Fähren zu.

Im letzten Moment konnte das Personal die Ladebrücken hochziehen. Die Migranten standen am Ende der Quais, wussten nicht mehr weiter und liessen sich von der Polizei abtransportieren. Die allermeisten kamen wieder frei.

Flüchtlinge stürmen das abgesperrte Hafengelände:

Die absurde Situation dieser Sisyphus-Migranten im Herzen von Europa ruft nach einer Revision und einer Harmonisierung des europäischen Ayslrechts. Die Briten wollen aber nicht. Sie schenken Calais bloss die Umzäunungen des letzten Nato-Gipfels.

Die konservative Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchard, eine ehemalige «Sarkozystin», verweigerte den Migranten jahrelang jede Hilfe. Doch vor einer Woche setzte sie im fernen Paris durch, dass die Flüchtlinge wenigstens tagsüber ein Empfangsareal erhalten.

Dort sollen sie essen und sich waschen können; ausserdem wird die Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR ein Büro einrichten, das laut ihrem Delegierten William Spindler eine «korrekte Auskunft über die Realität in England» vermitteln soll. Es soll den Migranten klarmachen, dass sie es jenseits des Ärmelkanals nicht unbedingt leichter haben als auf dem europäischen Festland.
 
Bei Asim und Omar ist die Botschaft noch nicht angekommen. Sie interessieren sich nicht für das UNHCR, sondern für den Wetterbericht. «Heute Nacht soll es bewölkt sein», freut sich Asim. «Da sehen uns die Chauffeure nicht, wenn wir auf die Laster klettern.»

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