Eineinhalb Stunden sind wir im Schnitt pro Tag unterwegs. Die Schweizer Mobilitätsstatistik offenbart aber auch spannendere Einsichten. Zum Beispiel, dass zwei Drittel wissen, wie man Stau umgeht, und dass wir Verkehr nicht nur produzieren, sondern auch konsumieren.
Nach Auffahrt steht nun Pfingsten bevor – erneut Reisezeit. Reisen, nur um anzukommen, oder Reisen, um unterwegs zu sein? Reisen, in der Regel auch um zurückzukehren zu den geliebten oder ungeliebten Dauerverhältnissen. Unterwegs, aber auch zu Hause auf dem Balkon oder auf dem Sofa kann man sich neuerdings einen Bericht zu Gemüte führen, den Bundesstellen über «unser» Verkehrsverhalten angeliefert haben.
Es ist ein Bericht voller Zahlen, mit vielen Durchschnittswerten. Mitgeteilt wird da, welche Distanz eine in der Schweiz lebende Person pro Tag im Schnitt zurücklegt: 36,8 Kilometer. Diese Zahl betrifft aber nur die Bewegung im Inland. Zählt man die Auslandmobilität der in der Schweiz domizilierten Bevölkerung hinzu (30,4 km), verdoppelt sich die zurückgelegte Distanz beinahe (67,2 km).
Der Bericht begnügt sich nicht mit einer Momentaufnahme, die das Jahr 2015 erfasst. Er gibt Auskunft auch über die Entwicklung.
Falls man mit einer rasanten Zunahme der Mobilität gerechnet hat und diese bedenklich fände, kann man beruhigt sein: Die tägliche Reisezeit von 90,4 Minuten ist seit der letzten Erhebung von 2010 sogar um 1,3 Minuten zurückgegangen. Und die täglich zurückgelegte Distanz hat in den letzten zwei Jahrzehnten nur um 5,5 Kilometer zugenommen. Die zunehmende Verkehrsbelastung ergibt sich allerdings aus einer doppelten Progression: Zunahme sowohl pro Person wie auch Zunahme der zunehmend mobilen Personen, das heisst der Bevölkerung.
Freizeit vor Arbeit
Zu welchen Zwecken sind wir täglich 90,4 Minuten unterwegs? Die Hälfte davon (45,2 Min.) ist Freizeitmobilität! Es folgen die Arbeit mit 17,3 Minuten, was angesichts der Pendlerströme erstaunlich wenig ist, und Einkauf mit 13,2 Minuten. Der Rest geht auf Ausbildung (5,5 Min.) und Übriges (mit 9,3 Min.).
Selbst an Wochentagen ist der Anteil der Freizeitwege an der Tagesdistanz mit 33 Prozent leicht höher als derjenige der Arbeitswege (32 Prozent). Es überrascht nicht, dass Freizeit in hohem Mass genutzt wird, um sich frei fortzubewegen, was man auch als eine Reaktion auf die Bindung an die in der Regel stationäre Arbeit verstehen kann.
Das habe auch ich am Auffahrtswochenende (weg vom Schreibtisch) mit einer Velotour im Schwarzwald gemacht: auf kurvenreichen, zum Teil auch recht steilen Strassen durch dichten und selber sehr ruhigen Baumbestand, aber in Kombination mit Motorradfahrern, die mit lautem Knattern und in kurzen Abständen vorbeibrausten, in Herden mit jeweils gleichen Herkunftsschildern, teils sogar aus dem Waadtland hergereist.
Motorräder sind mehrheitlich Freizeitvehikel. Selbstverständlich ist auch ermittelt worden, wie die 36,8 Kilometer pro Tag zurückgelegt werden. Nicht erstaunlich nimmt das Auto mit 23,8 Kilometern den Löwenanteil in Anspruch, gefolgt von der Eisenbahn mit 7,5 Kilometern. Der Rest verteilt sich auf den übrigen öffentlichen Verkehr – Velos, E-Bikes, motorisierte Zweiräder und zu Fuss zurückgelegte Wege.
Die Art der Distanzüberwindung hängt logischerweise unter anderem auch von den verfügbaren Vehikeln ab. Offenbar gibt es in 78 Prozent der Haushalte ein Auto (in jedem dritten sogar deren zwei oder mehr), in 65 Prozent ein Velo, in 12 Prozent ein Motorrad und in 6 Prozent Kleinmotorräder und Mofas. Der Anteil der Haushalte mit E-Bike hat seit 2010 von 2 auf 7 Prozent zugenommen. Bei der Frage, welche Fahrzeuge durch welche ersetzt werden (E-Bike statt Auto oder statt Velo?), und der Frage der kombinierten Vehikel-Benutzung ist die Erhebung offenbar an ihre Grenzen gestossen.
Zwei Drittel finden Wege, dem Stau zu entgehen
Die Frage der Auslastung stellt sich fast nur bei den Autos. Und diese ist nach wie vor schlecht: 1,56 Personen sitzen im Durchschnitt in einem Auto. In der Freizeit, die man eher in Gesellschaft verbringt, sind es immerhin 1,9 Personen. Bei Arbeitsfahrten zeigt sich weiterhin wenig Zuspruch für Carsharing: 9 von 10 Autos fahren in Einerbesetzung.
Hier schliesst die naheliegende Frage nach der Verteilung der Mobilität auf die Tageszeiten an, also auf die Stosszeiten. Ein gutes Drittel der Autofahrer findet sich mit dem täglichen Stau ab (oder muss dies tun). Ein weiteres Drittel wählt alternative Routen, 21 Prozent fahren zu alternativen Zeiten und 7 Prozent wechseln das Verkehrsmittel, um rascher vorwärts zu kommen.
Während sich die Zunahme der Binnenmobilität in Grenzen hält, ist die im Ausland absolvierte und konsumierte Mobilität mit einer Zunahme von über 60 Prozent in den letzten fünf Jahren geradezu explodiert. Thailand und Patagonien lassen grüssen.
Kantonale Unterschiede
Die Medien rapportierten nur gesamtschweizerische Durchschnittswerte aus dem Verkehrsverhalten der Bevölkerung. Von einigem Interesse können aber die regionalen und kantonalen Unterschiede sein, die aufschlussreiche Vergleichsmöglichkeiten geben.
Der Anteil der Haushalte mit Velo beträgt in Lugano lediglich 41 Prozent und ist auch in den Westschweizer Ballungsräumen Lausanne (49 Prozent) und Genf (59 Prozent) vergleichsweise tief. In den grossen Deutschschweizer Agglomerationen dagegen liegen die entsprechenden Werte allesamt zwischen 67 Prozent in Luzern und Basel und 76 Prozent in Winterthur. Thematisch schliessen hier die Angaben zur kantonal höchst unterschiedlichen Nutzung des Autos mit den bekannten hohen Werten im Jura und im Tessin und der geringsten in Basel-Stadt.
All diese Zahlen können in doppelter Weise sinnvoll sein. Erstens für Behörden aller Stufen als Planungs- und Entscheidungsgrundlage. Als das sind sie wohl in erster Linie gedacht. Sie werden aber, da wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, zugleich der Öffentlichkeit mitgeteilt. So können wir uns, zweitens, selber einordnen und unser Verhalten etwas reflektieren und allenfalls sogar Konsequenzen daraus ziehen.
Wo bleiben 0,1 Beifahrer?
Die Befunde haben sich aus sogenannten Repräsentativbefragungen von 57’000 Menschen ergeben, neuerdings auch unter Berücksichtigung von Menschen, die wegen ihres Mobiltelefons als besonders mobil gelten. Die Zahlen geben selber zu verstehen, dass sie bloss Durchschnittswerte sind, etwa mit der erwähnten Autobelegung von 1,9 Personen für Freizeitfahrten. Das erinnert an Angaben, denen zufolge Frauen im reproduktionsfähigen Alter 1,3 Babys haben. Wo bleiben da 0,1 Beifahrer und 0,7 Babys?
Kritische Betrachter und Betrachterinnen melden den sehr berechtigten Einwand an, dass Durchschnittswerte bloss statistische Grössen sind, und man, ob es nun das Verkehrs- oder das Reproduktions- oder zum Beispiel das Suchtverhalten betrifft, eigentlich stets das Verhalten sozialer Gruppen analysieren sollte: von Geschlechterkategorien, Altersklassen, von Bildungs- und von Wohlstandsgruppen.
Schwer Übergewichtige sind pro Tag nur 24 Minuten, Normalgewichtige dagegen 30 Minuten zu Fuss unterwegs. So what?
Wenig überraschend ist der Befund, dass Männer 11 Prozent ihrer Tagesdistanz für den Arbeitsweg zurücklegen, Frauen dagegen nur 2 Prozent. Dafür wirkt sich der Geschlechterunterschied bei den Einkaufswegen umgekehrt aus: Frauen wenden 16, Männern nur 10 Prozent der zurückgelegten Distanz dafür auf. Schwer erklärbar ist, dass in der Alterskategorie der über 80-Jährigen Männer mit 16,3 Kilometern deutlich längere Tagesdistanzen zurücklegen als Frauen mit 11,2 Kilometern.
Unerwartete Einsichten könnten die variantenreichen Auskünfte über die Zusammenhänge von Mobilität und Körpergewicht versprechen. Doch schnell einleuchtend ist die Feststellung, dass schwer Übergewichtige pro Tag nur 24 Minuten, Normalgewichtige dagegen 30 Minuten zu Fuss unterwegs sind. So what?
Die aussagekräftigsten, aber kaum erfassbaren Kategorien wären Einheiten gleicher Grundeinstellung, Lifestyle-Kohorten. Bei näherer Betrachtung würde man aber auch da feststellen, dass diese sich wiederum aus vielen Altersklassen, mehreren Bildungs- und Wohlstandsgruppen zusammensetzen. Und dass wir – gemäss unserer pluralistischen Gesellschaft – mehr oder weniger wählen können, zu welcher wir gehören wollen.
Für alle jedoch gilt: Beim Studium der Angaben zum Verkehrsverhalten kann man sich in doppelter Weise bewusst werden, dass man den Verkehr sowohl produziert als auch konsumiert.