Im Rahmen des Festival Wildwuchs und des Projekts «fremd?!» führten Jugendliche das Publikum auf einen erkenntnisreichen und spannenden Spaziergang durch ihre Alltagswelt zwischen den Kulturen.
Nach gut anderthalb Stunden kommt man wieder beim Ausgangspunkt des Theaterspaziergangs an. Vor der Motel-Installation auf dem Kasernenareal liegen vom Regen durchnässte Zettel auf dem Boden. Darauf sind Klischee-Fragen über die teure Schweiz, über die massierte Polizeipräsenz am Rheinufer und so weiter zu lesen: «Warum sind die Menschen in der Schweiz nicht offen?», zum Beispiel. Über die Antwort auf diese Frage liesse sich lange debattieren. Über einen Mangel an Offenheit konnten sich die Theaterspaziergängerinnen und -spaziergänger durch das Matthäusquartier aber sicherlich nicht beklagen.
«Mein Basel» heisst das Nachfolgeprojekt der Theaterinitiative «fremd?!», die unter der Leitung von professionellen Theaterschaffenden Bühnenprojekte mit Jugendlichen oder ganzen Schulklassen mit «transkulturellem Hintergrund» erarbeitet. Die Nachfolgeprojekte vereinen Jugendliche, die über ihre erste Theatererfahrung hinaus an weiteren Bühnenprojekten arbeiten möchten. Regisseur Patrick Gusset schickte nun im Rahmen des Festivals Wildwuchs zwölf junge Männer und Frauen im Alter von plus/minus 16 Jahren auf eine theatrale Exkursion durch «ihr» Basel bzw. Kleinbasel, das geprägt ist vom Spannungsfeld zwischen der hiesigen Alltagsheimat und den ursprünglichen Wurzeln, die eine ganz andere kulturelle Prägung haben.
«Störmobil»
Treffpunkt ist (bzw. war, denn leider handelt es sich nur um eine einmalige Aktion) das «Motel» auf dem Kasernenplatz. Im Hintergrund singt der «Surprise»-Strassenchor afrikanische Lieder (siehe Video unten), während der Regen einsetzt und Regisseur Patrick Gusset neben Funkkopfhörern die, in diesen Tagen für Aussenproduktionen obligaten Regenpellerinen verteilt. Das Motel ist Festivalzentrum von Wildwuchs und Andockstelle für die «Störmobile», die als Aussenstationen des Festivals eigene Projekte kreierten. Das Publikum wird in zwei Gruppen aufgeteilt – und auf geht’s zum Tram, drei Stationen in Richtung Norden bis zur Dreirosenbrücke.
Dort taucht man ein in die Strassen der Jugendlichen, die es aus irgendwelchen Gründen von weit weg ins Kleinbasel verschlagen hat. In das Kleinbasel, das zum Beispiel zur Heimat der 16-jährigen, aus dem iranischen Teil von Kurdistan stammenden Turuska geworden ist. Bei der Dreirosenmatte und vor der Orientierungsschule Dreirosen, die sie mal besucht hat, empfängt sie die Zuschauerinnen und Zuschauer, die während der Tramfahrt über Kopfhörer mit Einschätzungen der Jugendlichen über «ihr» Basel gefüttert worden sind. Im selbstbewussten Plauderton entschuldigt sie sich dafür, dass sie alleine da sei und die anderen sie im Stich gelassen hätten, obschon Zeit und Treffpunkt eigentlich klar vereinbart gewesen seien. Doch dann stösst Jack dazu – «zu spät wie immer» – und doch noch früher als Milan, den man erst später auf dem Spaziergang aufliest, und erst recht Christina, die man zu Hause an der Klybeckstrasse abholen muss.
Persönliche Nähe
Doch solche erfrischend unaufgesetzt inszenierte Interventionen stecken lediglich den geschickt gebauten und glaubwürdig gespielten Rahmen des Spaziergangs ab. Schon sehr bald schlüpfen die Jugendlichen aus ihren gespielten Rollen heraus und beginnen von persönlichen Erfahrungen zu erzählen: über ihre Schulzeit, über ihre berufliche Zukunft, das Leben in ihrem Quartier, die Gründe, warum sie aus ihrer ursprünglichen Heimat, die sie kaum kennengelernt haben, nach Basel gelangt sind. Und sie stellen den Spaziergängerinnen und Spaziergängern auch Fragen: was man arbeite, ob man schon Schlägereien oder Gefahrensituationen erlebt habe, und sogar, ob man an Gott glaube …
Absolut bestechend an diesem Spaziergang ist die Offenheit, mit denen die Jugendlichen auf die Gäste zugehen. Das Theater wird hier ganz und gar zur Begegnungszone und zum persönlich geprägten, aufklärerischen Akt. Nicht dass man nach dem rund anderthalbstündigen Spaziergang gleich ein anderer Mensch ist – so etwas zu behaupten, wäre nun doch übertrieben. Aber einen ziemlich weit reichenden Erkenntnisgewinn nimmt man als Teilnehmender der Aktion gewiss mit. In einem Selbstbeschrieb des Festivals Wildwuchs ist zu lesen: «Wildwuchs schafft Raum für Begegnungen. Begegnungen, die gewollt oder ungewollt sind, die überraschen und verzaubern, die unerwartet und doch begrüssenswert sind.» Für die Theateraktion «Mein Basel» trifft dieser Anspruch voll und ganz zu.