Eine falsche Stimme im bürgerlichen Chor

Das Volk hat gesprochen, aber – wie in einem politisch pluralistischen Land zu erwarten – mit vielfältigen Stimmen. Jetzt darf es eine äusserst lebhafte Legislatur erwarten.

Parteipraesident Toni Brunner, Vizepraesident Christoph Blocher, und Wahlkampfleiter Albert Roesti, von rechts, singen die Nationalhymne, an der Delegiertenversammlung und dem Wahlauftakt der SVP Schweiz, am Samstag, 22. August 2015, in St. Luzisteig, Maienfeld. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)

(Bild: Keystone/GIAN EHRENZELLER)

Das Volk hat gesprochen, aber – wie in einem politisch pluralistischen Land zu erwarten – mit vielfältigen Stimmen. Jetzt darf es eine äusserst lebhafte Legislatur erwarten.

Leider haben wieder einmal mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten eine Teilnahme an der Wahl nicht für nötig erachtet. Wären sie politisch ähnlich wenig versiert wie die sogenannten Erstwähler, dann war es nicht schlecht, dass sie zu Hause geblieben sind. 40 Prozent der Erstwählenden haben nämlich die SVP gewählt. Dieser enorm hohe Anteil erklärt sich zum Teil damit, dass sie in der Politik (noch) nicht so recht zu Hause sind und darum die schrillste Partei unterstützen. 

Schon publiziert und doch noch immer lesenswert: Während der Feiertage bis ins neue Jahr publiziert die TagesWche herausragende Artikel mit dem Vermerk «Best of 2015» nochmals. Wir wünschen gute Unterhaltung.

Die SVP hat einen «historischen Sieg» errungen. Das heisst, sie hat mit 29,4 Prozent Wähleranteil eine Höchstmarke erklommen. Den bisherigen Rekord der FDP (28,8 Prozent im Jahr 1919) hat sie damit um 0,6 Prozent überboten. Auch die SP erreichte mal ähnliche Werte, 1943 mit 28,6 Prozent. Am letzten Wahlsonntag hat auch die FDP insofern ein kleines «historisches» Ergebnis erzielt, als sie erstmals seit 36 Jahren wieder etwas zulegen konnte – vier Sitze!

Erwartungen und Befürchtungen

Zahlen kann man klein- oder grossreden. Der SVP-Zugewinn von 2,8 Prozent erscheint für schweizerische Verhältnisse geradezu gigantisch. Dabei verhält es sich wie bei den Börsenkursen: Nach einem Tief ist es leicht, Gewinne zu erzielen. Deshalb sollten wir stets nicht nur das Gestern, sondern auch das Vorgestern im Auge behalten. Gegenüber dem Stimmenanteil von 29 Prozent im Jahr 2007 hat die SVP bloss 0,4 Prozent zugelegt. Bei der FDP kann man den Zugewinn von 1,3 Prozent wegen der schlechten Vorgeschichte als beträchtlich empfinden.

Die Verschiebungen halten sich in Grenzen. Verständlich, dass das Resultat im Ausland als «Rechtsrütschli» fast etwas belächelt wird.

Alles in allem haben sich die Verschiebungen in den Nationalratswahlen im Plusbereich zwischen 0,1 (SP) und 2,8 Prozent (SVP) und im Minusbereich zwischen 0,1 (EVP) und 1,3 Prozent (Grüne, BDP) bewegt. Dies in einem Urnengang, der als Richtungswahl angesagt war. Verständlich, dass das Resultat im Ausland als «Rechtsrütschli» fast etwas belächelt wird.

Werden im Nationalrat dank Zehntelprozenten absolute Mehrheiten geschaffen, hat das jedoch sehr wohl politische Folgen. Ganz abgesehen davon, dass wir in einer über die Massen aufs Symbolische ausgerichteten Zeit auch Kleinhinweisen hohe Bedeutung geben können. Nicht symbolisch, aber symptomatisch ist, dass «die Bauern», die nur etwa 4 Prozent der Bevölkerung ausmachen, im Nationalrat – obwohl leicht dezimiert – mit 8 Prozent noch immer eine beachtliche Übervertretung geniessen.

Die Schweiz muss nun in den nächsten vier Jahren mit dem bescherten Resultat leben. Was wird es ihr bringen?

In den ersten Kommentaren konnte man positive Erwartungen wie Befürchtungen hören. Als positive Erwartung, gemäss der SVP-Propaganda, endlich Ordnung im Flüchtlingswesen, endlich Beschränkung der Einwanderung, endlich eine unnachgiebige Haltung gegenüber der EU und so weiter. Vedremo – wir werden sehen! Als Befürchtung: Verwässerung der geplanten Energiewende 2050, Rückwärtsgang bei der vom Ständerat in Gang gesetzten Rentenreform, weitere Störung der bisher guten Beziehungen zur EU.

Das «Stöckli» wird auf einmal zur Gegenkraft

Im Nationalrat kann oder könnte jetzt eine rechte Mehrheit das Sagen haben, weil SVP und FDP zusammen mit zwei Mandaten von Kleinparteien theoretisch über 50 Prozent der Stimmen versammeln. Auch vom rechten Rand der schmelzenden CVP könnte noch die eine oder andere Stimme hinzukommen. Die rechtsnationalen Kräfte werden nicht versäumen, dieses knappe Mehr zum «Volksauftrag» hochzureden.

Hat die andere Hälfte keine Aufträge von Wählerinnen und Wählern erhalten? Der Auftrag der Mitte (CVP, BDP, GLP, Grüne) und der Linken (SP) plus eines Kommunisten besteht darin, ein Gegengewicht zur Rechten zu bilden, sich dabei aber nicht in einer Anti-Haltung zu erschöpfen, sondern auch für ihre Zielsetzungen einzustehen. 

Im Ständerat sind erst 27 von 46 Sitzen verteilt, die zweiten Wahlgänge in den Kantonen dürften gegenläufig zum Ergebnis der Nationalratswahlen ausgehen. Erstaunlich und beinahe ein Novum im Schweizer Politsystem ist, dass der Ständerat, früher das konservative «Stöckli», jetzt zu einer an Zentrumspositionen orientierten Gegenkraft zum rechtsdominierten Nationalrat wird. Der Ständerat hat in der kommenden Legislatur Gelegenheit, seinem Ruf als «Chambre de réflexion» gerecht zu werden. 

Was kann eine liberale Kraft der dominierenden Überlegenheit der SVP entgegenhalten? Muss die FDP ebenfalls häufiger die Nationalhymne singen?

Entscheidend wird sein, wie sehr die FDP ihre kleine Eigenständigkeit bewahrt oder ob und in welchem Mass sie zur Mehrheitsbeschafferin der SVP wird. Innenpolitisch sind die Differenzen nicht gross. Aussenpolitisch dagegen sind sie erheblich.

Die wirtschaftlichen Rücksichten auf das Ausland könnten indirekt die kleine Schweiz vor einem stärkeren Abdriften nach rechts bewahren. Allerdings zeigen sich schon jetzt Ansätze, dass FDP-Strategen – unter Berufung auf politische Ratio und angebliche Rücksicht auf das politische System – der SVP entgegenkommen wollen, dies aber auch darum tun, weil es einer uneingestandenen inneren Neigung und Sehnsucht entspricht. 

Die SVP mit ihren 65 Nationalratssitzen ist der FDP (33 Sitze) nicht nur numerisch überlegen. Sie verfügt auch in anderer Hinsicht über eine dominierende Überlegenheit: Sie hat eine stärkere Organisation, eine wuchtigere Doktrin, mehr Kreativität (im wertfreien Sinn) – und eine wesentlich grössere Kasse. Was kann dem von einer liberalen Kraft entgegengehalten werden? Muss die FDP ebenfalls häufiger die Nationalhymne singen? 

«Die liberale Bürgerwelt bevorzugt das Mittlere gegenüber den Extremen»

Die in Graubünden gewählte Blocher-Tochter Magdalena, eine Zürcherin, schrie am Sonntagabend ins SRF-Mikrofon, dass nun die Politik in Bern hoffentlich «bürgerlicher» werde. Es gehört zur der usurpatorischen Energie der unbürgerlichen SVP, die Etikette bürgerlich für sich zu beanspruchen. Diese Sprachregelung wird von den meisten Medien unkritisch übernommen. Auch Markus Somm von der BaZ wird nicht müde, sie zu kultivieren. Wie unangemessen dieser Wortgebrauch ist, macht die folgende Umschreibung bewusst. 

Philosoph Odo Marquard versteht die bürgerliche politische Kultur so: «Die liberale Bürgerwelt bevorzugt das Mittlere gegenüber den Extremen, die kleinen Verbesserungen gegenüber der grossen Infragestellung, das Alltägliche gegenüber dem Moratorium des Alltags, das Geregelte gegenüber dem Erhabenen, die Ironie gegenüber dem Radikalismus, die Geschäftsordnung gegenüber dem Charisma, das Normale gegenüber dem Enormen.»

Die SVP kann nicht als eine bürgerliche Partei bezeichnet werden. Zentrale Elemente des Bürgerlichen sind ihr zutiefst fremd.

Davon ausgehend, kann die SVP nicht als eine bürgerliche Partei bezeichnet werden. Zentrale Elemente des Bürgerlichen sind dieser Partei zutiefst fremd. Weder Spott und Hohn für Parlament und Bundesrat noch grundsätzliche Staatsfeindlichkeit und beissende Intoleranz gegenüber politischen Gegnern und Konkordanzfeindlichkeit sind bürgerliche Eigenschaften. 

Man soll, heisst es nun, der SVP Gelegenheit geben, mit der Gewährung eines zweiten Bundesratssitzes Verantwortung zu übernehmen. Das müsste nicht den Verzicht auf fallweise Opposition bedeuten, was sich ja auch andere Parteien herausbedingen. Es würde aber den Verzicht auf ein zentrales Moment ihrer bisherigen Politik und ihres Erfolgs bedeuten, dass nämlich stets «die anderen» schuld sind an allen Problemen der helvetischen Welt – an real bestehenden wie an erdichteten Schwierigkeiten. 

Bei der Bundesratswahl geht es auch um die Frage, welche Art von Politik in diesem Land entscheidend sein soll

Speziell im Fall der SVP, aber auch im Fall aller anderen Parteien könnte man sich fragen, warum welche Menschen sich von einer bestimmten Politik ansprechen lassen und sich sogar für diese engagieren. Spezielle materielle Interessen (zum Beispiel für die Landwirtschaft oder für die EMS-Chemie) können in die eine oder andere Richtung konditionieren. Daneben dürften es aber auch starke psychische Dispositionen sein, die uns für bestimmte politische Angebote ansprechbar machen oder nicht. 

Unvermeidlicherweise wird seit dem Wahlsonntag nun noch heftiger als zuvor die allfällige Nachfolge für Eveline Widmer-Schlumpf diskutiert; eine Frage, die bis zum 9. Dezember weiter beschäftigen wird. Da geht es um eine Politikerin, gewiss, es geht aber auch um mehr: um die Art von Politik, die in diesem Land entscheidend sein soll.

Widmer-Schlumpf sollte nicht voreilig das Feld räumen, sondern die Kräfte, die sie beseitigen wollen, mit dem Odium behaften, dass sie sich an einer tüchtigen Magistratin vergriffen haben.

Für den Fall von Widmer-Schlumpfs Rücktritt hoffen wir, dass jemand gewählt wird, der mindestens so fähig ist wie sie. Ob sie zurücktritt oder nochmals antritt, ist weitestgehend ihre eigene Entscheidung. Ihre Standfestigkeit und Ausdauer sprechen für ein nochmaliges Antreten.

Mit erhobenem Kopf abtreten kann sie nicht nur bei einem Verzicht, auch als Abgewählte könnte sie ihr Ansehen bewahren. Sie sollte nicht voreilig das Feld räumen, sondern die Kräfte, die sie beseitigen wollen, mindestens mit dem Odium behaften, dass sie sich an einer tüchtigen Magistratin vergriffen haben.

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