Wer in den aktuellen Schlagzeilen über Istanbul liest, wird kaum auf fröhliche Neuigkeiten stossen. «Innocence of Memories» lädt zu einem alternativen Besuch der türkischen Grossstadt ein – nämlich auf einen romantisch-melancholischen Spaziergang.
Überwachung und Kontrolle durch den Staat, ein Putschversuch, gewaltsame Festnahmen und immer wieder Terroranschläge – diese Bilder prägen momentan das Bild von Istanbul. Viele Einwohner wollen die Türkei verlassen, Wissenschaftler und Kreative sehen sich ihrer Freiheit beraubt und haben Angst davor, sich zur aktuellen Lage zu äussern.
Der Film «Innocence of Memories – Orhan Pamuk’s Museum and Istanbul» steht im Gegensatz zu diesem politischen und gesellschaftlichen Chaos, indem er der türkischen Grossstadt seine Liebe erklärt. Der Film spielt fern vom gegenwärtigen Terror. Auf einen heiteren Kinobesuch sollte sich der Besucher trotzdem nicht einstellen.
Düstere Melancholie
Der Zuschauer wird schon zu Beginn mit einem dunklen, ausgestorbenen Istanbul konfrontiert. Begleitet wird diese düstere Stimmung von einer unheimlichen Musik und einer monotonen Erzählstimme. «Innocence of Memories» lädt den Zuschauer auf einen mystischen Spaziergang durch Istanbul ein, dessen Erzähltempo mit dem einer Tierdokumentation vergleichbar ist. Und hier soll jetzt eine Liebesgeschichte erzählt werden?
Im Istanbul der 1970er-Jahre steht der Oberschicht-Mann Kemal kurz davor, seine Freundin Sibel zu heiraten. Zufällig trifft er die ärmere Verwandte Füsün, verliebt sich unsterblich in sie und trennt sich von seiner Frau. Aus Liebe beginnt er, persönliche Gegenstände von Füsün zu sammeln.
Dunkle Strassen, unheimliche Musik: «Innocence of Memories» zeigt Istanbul von seiner schwermütigen Seite. (Bild: trigon-film)
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Langsamkeit und Einfachheit bezaubert und fasziniert die türkische Liebestragödie – die geheimnisvolle Aura ist Balsam für die Nostalgiker-Seele. Anstatt Schauspielkunst und unterhaltsame Dialoge bietet dieser Film eine melancholische Stimmung, die vor Sehnsucht und unerfüllten Träumen strotzt.
Film und Museum als Parallelwelten
Der Film des britischen Regisseurs Grant Gee lässt eine Parallelwelt zum 2008 erschienenen Roman «Masumiyet Müzesi» («Das Museum der Unschuld») des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk entstehen. Menschen werden fast nie gezeigt, stattdessen schildern verschiedene Erzählstimmen die Geschichte aus ihrer Perspektive.
Pamuk selbst hat bereits 2012 eine materialisierte Parallelwelt zu seiner Geschichte erschaffen: In seiner Heimatstadt Istanbul gründete Pamuk vier Jahre nach der Romanveröffentlichung das Museum zum Buch, wo die fiktionalen Gegenstände, die Kemal im Roman sammelt, ausgestellt werden.
Der Film, dessen Drehbuch von Gee und Pamuk gemeinsam geschrieben wurde, nutzt das Museum als weitere Erzählebene: Die Stimme Pamuks im Audioguide-Stil erzählt als einer von vielen Erzählern einen Teil der Geschichte, indem er die abgefilmten Gegenstände kommentiert.
Ist das jetzt echt?
Pamuk konnte nicht wissen, in welchem Zustand sich sein Land und seine Stadt zum Zeitpunkt der Filmveröffentlichung befinden würden – der Film ist losgelöst vom heutigen Istanbul. Doch eine Parallele zwischen Film und Gegenwart gibt es trotzdem: Man weiss während des ganzen Films nie genau, wem man Glauben schenken darf und wem nicht.
Abgesehen von den nur teilweise glaubwürdigen Erzählern tauchen vereinzelt anscheinend reale Stadtbewohner der Gegenwart auf und berichten von ihrer Beziehung zur Stadt. Real existierende Menschen oder erfundene Figuren? Das wird sich der Zuschauer noch bis zum Schluss fragen, denn Gee lässt Imagination und Realität ganz bewusst verschwimmen.
Hauptdarsteller dieses verzwickten Spiels zwischen Tatsache und Fantasie spielt Pamuk selbst, der in kurzen Interviewausschnitten über seine Romanfiguren spricht. Die Frage nach der Wahrheit gibt man spätestens dann auf, wenn Pamuk erzählt, wie er sich mit Kemal in dessen Zimmer über Füsün unterhalten hat.
Skurrile Gegenstände: Kemal sammelt u.a. Füsüns Zigarettenstummel. (Bild: trigon-film)
«Innocence of Memories» tanzt auf vielen Hochzeiten: Er ist gleichzeitig ein Dokumentarfilm, der auf einer fiktiven Handlung basiert, und eine Romanverfilmung mit Dokumentationscharakter. Wer mit Metaebenen, Zwischenrealitäten und Genre-Mischungen nichts anfangen kann, sollte definitiv die Finger von diesem Film lassen.
Doch wer ein Herz für romantische Melancholie hat, wird daran Gefallen finden: Wenn auch schwermütig, so symbolisieren die geheimnisvollen Strassen eine grosse Liebe zu Istanbul. «Wenn wir lange genug hier leben, wird die Stadt ein Museum unseres Lebens», sagt eine der vielen Erzählerstimmen und berührt damit nicht nur Istanbul-Liebhaber, sondern Stadtkinder von überall.
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«Innocence of Memories – Orhan Pamuk’s Museum and Istanbul» läuft ab dem 11. August um 19 Uhr im kult.kino Atelier.