Einsteigen, Genossen, der Zug fährt ab!

Im März 1917 ergriff die russischen Revolutionäre in der Schweiz das Reisefieber. Am 9. April gings los Richtung Heimat.

Die Reise auf einen Blick: Buchdeckel der Erstausgabe von Fritz Plattens Rückblick auf die historische Fahrt (1924).

Im März 1917 ergriff die russischen Revolutionäre in der Schweiz das Reisefieber. Am 9. April gings los Richtung Heimat.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. In der Nacht des 2. März 1917 – nach dem damals in Russland in Gebrauch stehenden gregorianischen Kalender: des 15. März – hatte Zar Nikolaus II. abgedankt. Sein Rücktritt war eine Art Bauernopfer, hoffte man doch, damit den Massenprotesten, deren Ruf nach Brot und Frieden immer lauter wurde, die Spitze zu brechen.

Der Sturz des Zaren versetzte auch die kleine Zahl revolutionärer russischer Emigranten in der Schweiz in Erregung. Diese wollten nun möglichst rasch zurück in die Heimat, um sich an der Revolution zu beteiligen. Einer von ihnen war Wladimir Iljitsch Uljanow (1870–1924), besser bekannt unter seinem Pseudonym Lenin, der seit einiger Zeit zusammen mit seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja (1869–1939) in Zürich in einem Zimmer an der Spiegelgasse 14 wohnte.

Lenin brannte ganz besonders darauf, nach Russland zurückzukehren. Für ihn stand fest, dass der Sturz des Zaren nicht das Ende, sondern erst der Anfang der Revolution sei, in der die Arbeiter und Bauern die Macht zu erringen hätten.

Im Wartesaal der Weltgeschichte

Realistisch gesehen schien eine Heimreise nicht ernsthaft in Betracht zu kommen. Denn Frankreich und Grossbritannien, auf deren Seite Russland im Krieg gegen Deutschland stand, setzten alles daran, eine Rückkehr russischer Revolutionäre zu verhindern. Dies, weil sie befürchteten, dass eine revolutionäre Regierung offene Ohren für einen Separatfrieden mit Deutschland haben könnte.

Eine Fahrt durch Deutschland andererseits, sollte Berlin einer solchen überhaupt zustimmen, barg die Gefahr, dass die russischen Genossen in den Verdacht gerieten, in deutschem Sold zu stehen.

Fritz Platten, ein kämpferischer Gewerkschafter und seit 1915 Sekretär der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS), machte schliesslich das Unmögliche möglich.

Die Reise auf einen Blick: Deckel der Erstausgabe von Fritz Plattens Rückblick auf die historische Fahrt (1924).

Platten erreichte in Gesprächen mit der deutschen Seite, dass die russischen Revolutionäre in Bahnwagen mit exterritorialem Status durch Deutschland reisen konnten. Dabei wurde auf Pass- und Personenkontrollen verzichtet. Die russischen Passagiere durften in Deutschland ihre Bahnwagen nicht verlassen. Jegliche Kontaktaufnahme von deutscher Seite war zu unterlassen.

Mit Kissen und Decken

Als Abreisedatum für eine erste Emigrantengruppe, zu der auch Lenin und Nadeschda Krupskaja gehörten, hatten die deutschen Behörden den 9. April festgesetzt. Nach einem gemeinsamen Mittagessen im «Zähringer Hof» begab sich das Grüppchen mit Kissen, Decken und reichlich Proviant beladen zum Zürcher Bahnhof, wo der Zug um drei Uhr zehn fahrplanmässig Richtung Schaffhausen abfuhr.

Der Grenzübertritt erfolgte bei Thayngen. In Deutschland ging die Reise über Frankfurt und Berlin zum Ostseehafen Sassnitz. Von dort brachte das Salonschiff «Trelleborg» die Revolutionäre nach Schweden.

In Stockholm wurden sie von schwedischen Genossen festlich empfangen. Vor der Weiterfahrt liess sich Lenin, der in Bergstiefeln mit ungeheuren Nägeln reiste, von seinem politischen Weggefährten Karl Radek auch noch zum Kauf anderer Stiefel und einer neuen Hose bewegen.

Kampf um die Macht

Dann endlich war man in Russland, wo Lenin sogleich alle Hebel in Bewegung setzte, um den revolutionären Prozess voranzutreiben. Den Bürgerkrieg, der 1918 entbrannte, hielt er für unvermeidlich. Zu den vielen Opfern, die der Krieg forderte, gehörte letztlich auch Lenin.

Am 30. August 1918 wurde er bei einem Attentat durch zwei Schüsse verletzt. Von den Folgen erholte er sich nie mehr ganz. Er starb am 21. Januar 1924.

Fritz Platten seinerseits blieb Lenin und der Russischen Revolution über den April 1917 hinaus verbunden. In der Schweiz war er eine der treibenden Kräfte, die dafür sorgten, dass sich Teile der SPS-Linken für den Anschluss an die 1919 in Moskau gegründete Kommunistische Internationale aussprachen und 1921 der Kommunistischen Partei der Schweiz beitraten.

1924 wanderte Platten in die Sowjetunion aus. 1937 wurde seine Ehefrau Berta Zimmermann als angebliche Spionin erschossen. Im folgenden Jahr wurde Platten selbst der Prozess gemacht. Er starb am 22. April 1942 in einem russischen Arbeitslager. 1956 wurden beide durch die sowjetischen Behörden rehabilitiert.


Im Rahmen der Ausstellung «1917–2017. Das Echo der Russischen Revolution» im Landesmuseum Zürich erinnern die Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte der Universitäten Basel, Bern und Zürich am Sonntag, 9. April, an Lenins legendäre Zugfahrt.
www.revolution-1917.ch

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