Es gärt unter Budapests Intellektuellen. Gegen den nationalistischen Kurs von Ungarns Premier Viktor Orbán bildet sich Widerstand. Unter dem Namen Együtt 14 haben sich links-liberale Gruppierungen zu einer neuen politischen Bewegung vereint.
Er suche ein «Handbuch mit einer Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Armut, welches erklärt, wie man diesen Zustand mit Würde und ohne Nervenzusammenbruch ertragen kann», schrieb der ungarische Schriftsteller Sándor Márai auf seiner Heimreise von Paris Anfang der 1930er-Jahre.
An die düstere Stimmung der Zwischenkriegszeit erinnert im heutigen Ungarn wieder vieles. Und auch der Nationalismus hat eine Renaissance. Etwa wenn die Regierung Orbán offiziell des Vertrags von Trianon (1920) gedenkt, durch den Ungarn zwei Drittel seiner Fläche und rund vierzig Prozent seiner Bevölkerung an die Nachbarländer verlor. Oder wenn die Opferrolle der Ungaren unter sowjetischer Besetzung zelebriert wird. All dies soll den Alleingang Ungarns in der EU rechtfertigen.
Es gibt ein Ungarn, das die Regierung ausblendet: das Ungarn der Armen.
Resultat dieses nationalistischen Anachronismus’, der in der neuen Verfassung seine Verankerung gefunden hat, ist eine besorgniserregende Spaltung der Gesellschaft. Wer in Ungarn über Ungarn schreibt oder für die Öffentlichkeit arbeitet, merkt, dass die Regierungspartei Fidesz «mit zwei Zungen» spricht, wie der Historiker Krisztián Ungváry kürzlich gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» klagte.
Ohne «klare Abgrenzung zur rechtsextremen Jobbik-Partei» und mit ihrem «demokratischem Scheinverhalten gegenüber der EU» betreibe die Regierungspartei von Viktor Orbán «Augenwischerei», kritisiert Ungváry. Zudem informiere die Regierung über die ungarische Problemlage im In- und im Ausland in jeweils unterschiedlicher Tonlage.
Bloss: «Wie wollt ihr das Basler Bürgern und Bürgerinnen erklären?», fragt uns eine Budapesterin auf ihrem Weg ins legendäre Lukács-Bad. «Wir selbst verstehen nicht, was hier vorgeht, und was noch folgen wird.»
Glaubt man dem Autor Lászlo Márton, besteht die Hoffnung, dass «unter dem System öffentlicher Einrichtungen» und dem «sichtbaren Staat» noch «eine geheime Gesellschaft den Karst» durchzieht. Denn die Bilder, die der Staat zu Propagandazwecken bedient und die die Exklusivität des ungarischen Volkes suggerieren sollen, entsprechen nicht der Wirklichkeit, die die Ungarinnen und Ungaren täglich erleben.
«Helden, Könige und Heilige» hiess die Show in der Budapester Nationalgalerie, die Ministerpräsident Viktor Orbán im Januar 2012 zur feierlichen Einführung der neuen Verfassung eröffnet hatte. Und György Fekete, Präsident der staatlichen Kunstakademie, wünschte im Sinne des Staatsführers, dass «keinem Akademiemitglied das genetische Gefühl des Nationalismus» abgehe.
In dieses politische Klima passt, dass Strassen und Plätze umbenannt werden, wie es zu kommunistischen Zeiten üblich war. Der Moszkva-Platz heisst jetzt Szell Kálmán-Platz, der Ferihegy-Flughafen neu Liszt Ferenc International Airport – und zu Ehren des ehemaligen Reichsverwesers Miklós Horthy (1868 – 1957) werden Gedenktafeln errichtet, weil er die verlorenen Gebiete im Zweiten Weltkrieg zurückgefordert hatte (wenn auch zum Preis der Mitverantwortung am ungarischen Holocaust an der Seite Hitlers).
Literatur als «Vaterlandsverrat»
Dabei hätte Ungarn mit all seinen «Parallelgeschichten», wie Péter Nádas’ Jahrhundertwerk passend heisst, die besten Voraussetzungen, als pluralistischer Staat zu agieren und sich selbstbewusst gegenüber Europa zu öffnen. Aber die Erkenntnis «Ich bin Ungar» erfordere keine Poesie, sagt Péter Esterházy ironisch. Literatur sei unter anderem dazu da, die Komplexität der Identität vermittelbar zu machen, sagt der renommierte Schriftsteller und Essayist: Doch Literatur gelte heute als «Vaterlandsverrat», sobald sie die ungarische Geschichte kritisch reflektiere.
Trotzdem zelebriert die Regierung stolz die grossen ungarischen Namen – allerdings nur, solange diese eine verträgliche Dosis Kritik in die öffentliche Diskussion einbringen. Dies entspricht dem Konzept der «weichen Diktatur», des sogenannten «Gulasch-Kommunismus», der seit den 1970er-Jahren in Ungarn herrscht. So wurde etwa der scharfzüngige Esterházy beauftragt, im staatlichen Radio wöchentliche Kulturempfehlungen abzugeben. Nachdem er aber eine Inszenierung des umstrittenen – und kürzlich entlassenen – Intendanten des Nationaltheaters, Róbert Alföldi, empfohlen hatte, wurde der Beitrag stillschweigend gestrichen.
Junge Familien verarmen
Das von Regierung und rechten Parteien bemühte Bild eines unberührbaren Ungarns ist vielerorts auf einen Grund gemalt, der seit dem Zweiten Weltkrieg bröckelt. «Wir haben das alles schon einmal erlebt», sagt ein Budapester Ingenieur, der sich durch Orbáns Auftritte im EU-Parlament und dessen rigide Werbekampagne gegen den Internationalen Währungsfonds an stalinistische Zeiten erinnert fühlt: «Es ist wie früher: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.»
Doch es gibt auch ein anderes Ungarn, das die Regierenden hartnäckig ausblenden: das Ungarn der Armen. Zur Jahreswende boten Budapests Strassen ein deprimierendes, aber kein seltenes Bild: Neben protestierenden Studenten standen Hunderte von bedürftigen Menschen Schlange auf der prächtigen Rákóczi út mitten in der Hauptstadt. Hier schöpfen Non-Profit-Organisationen täglich eine heisse Mahlzeit für die Mittellosen aus; immer öfter sind hier auch junge Familien anzutreffen. Am Südbahnhof sangen Kinder während der Festzeit Weihnachtslieder neben in Decken eingerollten alten Menschen, die hier ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ähnliche Szenen spielen sich Nacht für Nacht am Blaha Lujza Tér ab: An zahlreichen Schlafstellen werden Thermosflaschen für die Obdachlosen hinterlegt.
Rund 25 bis 30 Prozent der Einwohner Ungarns leben heute unter der Armutsgrenze; Hauptbetroffene sind neben alten Menschen immer mehr Familien. Die Arbeitslosigkeit hat sich bei rund 11 Prozent eingependelt – dies nur dank der Einführung der Freiwilligenarbeit, zu der Arbeitslose verpflichtet sind und die mit einem Monatslohn von 47 000 Forint (knapp 200 Franken) vergütet wird. Mit diesem Einkommen allein lässt sich aber keine Existenz sichern, kritisieren Betroffene.
Auch im Lukács-Bad, wo sich bis in die 1990er-Jahre Schriftsteller, Journalistinnen und Theaterregisseure zum Austausch getroffen hatten, spielen sich wieder Situationen ab, die an alte Zeiten erinnern. Seit Monaten sitzt in der Trinkhalle der altehrwürdigen Budapester Badeanstalt, wo man ohne Eintrittskarte in der Wärme sitzen kann, tagsüber ein mit viel Lektüre ausgestatteter junger Mann. Er könne so Heizkosten sparen, sagt er – wie einst Márai im Café New York. Im «Lukács» kreist unter arbeitslosen Intellektuellen die Hoffnung, dass die gewonnene Zeit zum Lesen zu politischen Gesprächen im warmen Wasser anrege. Leider aber sind die Badepreise merklich angestiegen, und die Anstalten werden vom Staat nicht mehr subventioniert.
Noch steht in Ungarn kein Machtwechsel auf dem Plan. Aber es brodelt, und auf der grossen Bühne haben bereits einige prominente Namen das Handtuch geworfen: Nach Róbert Alföldi, dem zum Abgang gezwungenen Direktor des Nationaltheaters, sind Gábor Gulyás, Leiter der Budapester Kunsthalle, sowie Zoltán Rockenbauer, Chefredakteur der Kulturabteilung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aus politischen Gründen zurückgetreten.
Auf den kleineren Bühnen Budapests wird derweil das in die Jahre gekommene Stadtbild als Kulisse für einen selbstironischen Umgang mit der Vergangenheit genutzt. So prägt sich etwa der Barkomplex «Szimpla Kert» mit Familienprogrammen und einem besonderen Sonntagsmarkt eigenwillig ins Stadtbild ein. Mit Produkten, die ausschliesslich von ungarischen Kleinbauern aus der Umgebung von Budapest stammen, die diese auch selbst verkaufen, hat das ungewöhnliche Konzept unlängst sogar in Berlin Schule gemacht. Für Innovation sorgen auch junge Wirte im jüdischen Viertel, die am 23. Dezember das Restaurant «Macesz Huszár» eröffnet haben. Der Name ist Programm: Jüdische Traditionsgerichte (Macesz) werden mit ungarischer Küche (Huszár) vereint. Seit dem Tag der Eröffnung sind die Tische Tag für Tag bis auf den letzten Platz gefüllt.
Politischer Widerstand
Auch politisch regt sich Widerstand. Unter dem Namen Együtt 14 haben sich links-liberale Gruppierungen zusammengeschlossen, um bei den Parlamentswahlen 2014 die Zweidrittelsmehrheit der Regierungspartei Fidesz zu brechen. Und einmal mehr kommt Hoffnung in der kritischen Öffentlichkeit auf: Hoffnung auf einen vertrauenswürdigen Staat, der den respektvollen politischen Umgang kultiviert, die Beziehungen zu Europa verbessert, das Staatsbudget nicht fünf Mal im Jahr herunterkorrigiert und eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte möglich macht. Nach einem von Abbrüchen und Zäsuren gekennzeichneten 20. Jahrhundert braucht Ungarn endlich Stabilität und Kontinuität. Oder wie der Autor Péter Nádas sagt: «Es muss sich viel ändern, damit alles beim Alten bleibt.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.02.13